Glockenläuten zu Silvester – Buddhistische Weisheit und Achtsamkeitspraxis zum Jahreswechsel

glocken neujahr

Von Jochen Weber

Gründer und Vorstand der BuddhaStiftung für universellen, säkularen Buddhismus. Arzt, Vipassana- und MBSR-Lehrer seit 2001, langjähriger Dharma-Praktizierender, Autor und aktives Teammitglied der BuddhaStiftung.

Zwischen Klang und Stille: Glocken-Traditionen in Ost und West

108 Glockenschläge und ein klarer Geist – Ein japanischer Jahreswechsel

Während die letzten Momente des alten Jahres vergehen und das erste Licht des neuen Jahres naht, erklingen in japanischen buddhistischen Tempeln die tiefen, widerhallenden Töne großer Bronzeglocken. Ursprünglich ein Brauch in chinesischen Zen-Tempeln, ist diese Praxis seit 1200 n. Chr. als Joya no Kane bekannt – das rituelle 108-malige Schlagen der Tempelglocken am Silvesterabend. 

Joya no Kane: Den Geist für das neue von Gier und Täuschungen klären

Diese Praxis symbolisiert die Reinigung von den 108 irdischen Begierden, die als bonnō bekannt sind und von denen man glaubt, dass sie menschliches Leid verursachen. Indem die Glocke 108-mal geläutet wird, sollen die Menschen von den 108 irdischen Begierden oder Täuschungen (kleshas) befreit werden, die in buddhistischen Texten als Ursachen menschlichen Leidens gelten. Auf diese Weise soll das neue Jahr mit einem frischen, klaren Geist begonnen werden.

Der Klang aller Glocken zum Jahreswechsel um Mitternacht: Ein westlicher Brauch

In westlichen Kulturen ist das Läuten der Glocken um Mitternacht an Silvester bzw. Neujahr Tradition. Das Läuten aller Glocken eines Glockenturms um Mitternacht signalisiert nicht nur das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen Jahres, sondern gibt auch Raum für Stille und Achtsamkeit, wenn man dem Klang der Glocken lauscht.

Die universelle Symbolik des Glockenläutens

Die Symbolik des Glockenläutens geht über kulturelle und spirituelle Grenzen hinweg. Als Brücke des Augenblicks zwischen Vergangenheit und Zukunft entspringt sie dem menschlichen Wunsch, die Wegmarken des Lebens mit Ritualen zu begleiten.

Mit den Glocken schwingen auch universelle Themen unserer Existenz mit, wie dem Wunsch nach Erneuerung, Transformation oder dem Wunsch nach einem leidfreien und glücklichen Leben im neuen Jahr.


Glockengeläut vom höchsten Kirchturm der Welt in Ulm, Süddeutschland

Werde wie eine „zerbrochene Glocke“ – Lass die Stille klingen

In den alten Glocken auf der Welt verbirgt sich eine tiefere Weisheit – eine, die nicht nur von Klang, sondern auch von Stille spricht.

Der Dhammapada, einer der bekanntesten Texte des Buddhismus, enthält dazu diesen Vers (134) [1]:

„Wenn du wie eine zerbrochene Glocke

nicht mehr widerhallst, 

dann hast du das Nirwana erreicht

und in dir ist keine Feindseligkeit mehr zu finden.”

Auf den ersten Blick mag dies paradox erscheinen. Warum sollte eine zerbrochene Glocke – eine, die ihren Hauptzweck nicht erfüllen kann – als erstrebenswert gelten? Um diese Metapher zu verstehen, müssen wir uns etwas eingehender mit der Natur des Geistes befassen.

Reflektiere einen Moment, wie Du Dich normalerweise durch das Leben bewegst.

Jemand spricht uns barsch an, und wir „hallen“ vor Wut wider. Wir werden gelobt, und wir „klingen“ vor Stolz. Wir erleben einen Verlust, und wir „hallen“ vor Trauer wider. Wie eine Glocke, die von verschiedenen Kräften angeschlagen wird, neigt unser Geist dazu, auf jede Erfahrung, der er begegnet, mitzuschwingen und dann zu reagieren oder zu antworten.

Warum Stille der Schlüssel zur Befreiung ist

Die Metapher der „zerbrochenen Glocke“ bietet eine radikale Alternative. Sie deutet auf einen Geist hin, der unerschütterlich bleibt, wie eine Glocke, die nicht mehr klingt, wenn sie angeschlagen wird. Das bedeutet nicht, dass man taub oder gefühllos wird. Vielmehr verweist die Metapher auf einen Zustand des achtsamen Gleichgewichts hin, in dem äußere Umstände bei uns nicht mehr die Macht haben, bei jedem Anlass „alle Glocken klingen zu lassen“.

Das ist es, was Buddha mit Nirvana meinte – kein fernes himmlisches Reich, sondern ein Zustand inneren Friedens, der genau hier und jetzt verfügbar ist, wenn wir lernen, nicht mehr als Reaktion auf die unvermeidlichen Höhen und Tiefen des Lebens ständig „nachzuklingen“ [2].

Vorsätze fürs neue Jahr anders gedacht – Mehr Stille, weniger Lärm

Diese Lehre erinnert uns daran, dass das, was wir manchmal als zerbrochen oder mangelhaft empfinden, uns tatsächlich auf eine tiefgründige Wahrheit hinweisen könnte. Unsere kulturelle Konditionierung könnte uns sagen, dass ständige Aktivität, Reaktion und Engagement Zeichen eines gut gelebten Lebens sind. Aber die Weisheit der zerbrochenen Glocke deutet auf etwas anderes hin – dass wahrer Frieden nicht in unserer Fähigkeit, Lärm zu machen, sondern auch in unserer Fähigkeit, still sein zu können, zu finden ist.

Glocken an Neujahr als Einladung zur Achtsamkeit

An der Schwelle zu einem neuen Jahr bietet uns der Klang oder der Nicht-Klang der Glocken eine Gelegenheit zur Achtsamkeits-Praxis. Anstatt traditionelle Vorsätze zu fassen – die oft nur noch mehr Lärm in unser ohnehin schon überfülltes Leben bringen – wie wäre es, wenn wir uns vornehmen würden, mehr wie die „zerbrochene Glocke“ zu werden? Dazu haben wir einige praktische Neujahrs-Übungen erstellt.

Übung Klang und Stille – Achtsamkeit auf die innere Resonanz des Geistes


Höre dem Glockengeläut des Ulmer Münsters zu (Video oben), einer anderen Glocke, einem Gong oder einer Klangschale:

– Nimm den Glockenklang wahr, wie er entsteht und in die volle Resonanz übergeht

– Nimm wahr, wie die Glocke(n) klingen und wie der Ton wieder in Stille übergeht

– Nimm wahr, wie der Klang zur Stille wird

– Nimm wahr, wie das Hören des Glockenklangs begleitet ist von einer angenehmen oder unangenehmen Empfindung oder gar keiner

– Nimm wahr, ob es eine Tendenz oder eine Resonanz gibt, etwas festhalten zu wollen, z.B. angenehme Empfindungen, den Glockenklang oder die Stille dazwischen

– Nimm wahr, wie sich der Körper anfühlt, während die Glocken klingen

– Wahrnehmen, wie Resonanz auf alle Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen entsteht, die im Geist auftauchen, jeden Moment

– Lass die Resonanzen verklingen wie der Klang der Glocke(n)

Übung Klang und Stille – Im Klang verweilen, in der Stille ankommen

Benutze ein Klangschale, einen Gong oder ähnliches oder eine App. Schlage die Glocke einmal an:

– Höre auf den ersten Schlag und wie er sich mit der Zeit verändert

– Nehme wahr, wie der Klang allmählich in die Stille übergeht

– Achte auf den Moment, in dem der Klang zur Stille wird

– Verweile einen Moment in dieser Stille

-Nimm wahr, was in deinem Gewahrsein auftaucht, bevor du die Glocke erneut anschlägst

Diese Übungen helfen uns, die Natur von „Nachhall und Stille“ in unserem eigenen Geist zu verstehen. So wie der Klang der Glocke auf natürliche Weise in der Stille verklingt, können auch unsere Gedanken und emotionalen Reaktionen auf natürliche Weise nachlassen, wenn wir sie nicht durch weitere mentale Aktivität anheizen.

zerbrochene glocke

Übung Klang und Stille  – Die zerbrochene Glocke im Alltag

Wähle jeden Tag eine typische Auslösesituation, in der Du übst, wie die „zerbrochene Glocke“ zu sein, z. B.:

–  Wenn Dich jemand kritisiert, halte inne, bevor Du antwortest

–  Wenn Du etwas bekommst, beobachte, ob Du Dich daran erfreuen kannst, ohne Dich daran zu klammern

–  Wenn Du mit Enttäuschung konfrontiert bist, beobachte den Impuls zu reagieren, ohne ihn sofort auszuleben

Das Ziel besteht nicht darin, unsere natürlichen Reaktionen zu unterdrücken, sondern einen Raum zwischen Empfindung und Reaktion zu schaffen – einen Moment der Stille, in dem Weisheit entstehen kann.

Die Übung geht weiter

Denke daran, dass es nicht darum geht, über Nacht einen perfekten Zustand der Nichtreaktion zu erreichen, wenn man wie die “zerbrochene Glocke” werden möchte. Es ist eine Übung, zu der wir immer wieder zurückkehren. Jedes Mal, wenn wir uns inmitten des Nachhalls ertappen, jedes Mal, wenn wir einen kleinen Abstand zwischen Empfindung, Erfahrung und Reaktion schaffen, bereiten wir den Boden für das Wachstum des inneren Friedens.

Das neue Jahr bietet uns eine perfekte Gelegenheit, mit diesen Übungen zu beginnen oder sie zu vertiefen. Wenn wir die Glocken das alte Jahr ausklingen hören, kann uns jeder Klang an die Möglichkeit der Stille erinnern. Jeder Glockenschlag kann eine Einladung sein, darauf zu achten, was in uns nachhallt und was still bleibt.

Wenn Du auf diese Weise in das neue Jahr eintrittst, kannst Du den tiefen Frieden entdecken, der nicht dadurch entsteht, dass wir unserem Leben mehr Klang hinzufügen. Der Frieden entsteht, wenn wir die Stille entdecken, die bereits da ist – die Stille der “zerbrochenen Glocke”, die Stille eines Geistes in Ruhe, die Stille des wahren Friedens.

Wir wünschen allen ein frohes neues Jahr:  mögen alle Wesen in Sicherheit, Frieden und frei von Leid leben können!


[1] Übersetzung ins Deutsche aus Gil Fronsdal „The Dhammapada“, Shambala 2006

[2] Ananda Sutta AN 3.32: „..„Ānanda, da denkt ein Mönch: ‚Das ist friedvoll, das ist erlesen: nämlich das Beruhigen aller Vorgänge, das Loslassen aller Bindungen, das Auflösen des Verlangens, das Schwinden, Aufhören, Erlöschen… Sie haben die Höhen und Tiefen der Welt eingeschätzt, und nichts in der Welt beunruhigt sie…“

Bildnachweis: Siehe Seite Lizenzen

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