Gutes Karma? Schlechtes Karma? Kein Karma!

karma kamma

Von Jochen Weber

Gründer der BuddhaStiftung, Dharma- und MBSR-Lehrer seit 2001, Arzt, philosophisch interessierter Wissenschaftler.

Gutes Karma? Schlechtes Karma? Kein Karma

Karma wird oft als kosmisches Punkte- oder Bestrafungssystem missverstanden: Gute Taten bringen gutes Karma, schlechte Taten führen unweigerlich zu Leid – sei es in diesem oder in einem zukünftigen Leben. In diesem Beitrag betrachte ich Karma aus einer pragmatischen, säkularen Perspektive – weder als unausweichliches Schicksal noch als übernatürliches Gesetz, sondern als praktischen Leitfaden für achtsames Handeln im Hier und Jetzt.

Nicht selten führt das traditionelle Verständnis dazu, dass man alles als vorherbestimmt betrachtet (Determinismus), wie Peter Sander mit Bezug auf die BuddhaStiftung in seinem Beitrag “Warum ich der Karmalehre keinen Glauben schenke” (Buddhismus Aktuell 2/25) schreibt.1 Stattdessen möchte ich zeigen, wie sich buddhistische Weisheit mit Ethik im Alltag verbinden lässt und uns einlädt, Verantwortung als Weg zur inneren Freiheit zu verstehen und zu leben.
Am Ende gibt es noch eine praktische Übung zum Thema.

Das traditionelle Karmaverständnis – Schicksal oder Selbstverantwortung?

Manchmal hört man die Aussage: “Du bist krank, das muss schlechtes Karma sein.” Eine solche Sichtweise suggeriert, dass alles Leiden selbst verschuldet und unvermeidbar sei. Ebenso wird gelegentlich behauptet, dass Armut oder Ungerechtigkeit “verdientes” karmisches Schicksal seien. Diese einseitige Perspektive greift jedoch deutlich zu kurz.

Vielfältige Aussagen zum Karma in den buddhistischen Traditionen

Der Pali-Kanon enthält unterschiedliche, teils widersprüchliche Aussagen zum Thema Karma – eine Herausforderung für heutige Praktizierende verschiedener buddhistischer Traditionen.

Einerseits sagt der Buddha im Anguttara Nikaya (AN 6.63): “Absicht, Mönche, nenne ich Karma (Tat).”2

Karma (in Pali: kamma) ist hier absichtsvolles Handeln – kein Schicksal, sondern ethische Verantwortung im Hier und Jetzt. Auch das Kalama Sutta (AN 3.65) bestärkt diese Perspektive: Der Buddha rät, sich auf direkte eigene Erfahrung und den praktischen Nutzen im eigenen Leben zu verlassen, nicht auf Dogmen.3

Demgegenüber steht das Cūlakammavibhaṇga Sutta (MN 135), wo der Buddha erklärt, dass Krankheit, Armut oder die soziale Klassenzugehörigkeit Folgen (Karma) früherer schädlicher Handlungen seien.4 Solche Aussagen wurden oft so verstanden, dass Menschen ihr Leiden „verdient” hätten. Der Ethiker Jake H. Davis warnt, dass genau diese Art karmischer Auslegung über Jahrhunderte hinweg selbst großes Leid verursacht hat und heute noch tut.5

Der große indische Sozialreformer, Buddhist und Vater der indischen Verfassung B.R. Ambedkar kritisierte in seinem Werk “The Buddha and His Dhamma” (1957) diese deterministische Auslegung scharf: “Welchen Zweck könnte die Erfindung einer solchen Doktrin gehabt haben? Der einzige Zweck, den man sich vorstellen kann, ist, dem Staat oder der Gesellschaft zu ermöglichen, sich der Verantwortung für die Lage der Armen und Geringen zu entziehen. Andernfalls hätte eine solch unmenschliche und absurde Doktrin niemals erfunden werden können.”6 Ambedkar bezog sich dabei auf die spezifische Interpretation des Karmas, die zur Rechtfertigung des indischen Kastensystems verwendet wurde.

Eine Herausforderung für die Praxis

Für Praktizierende des Dharma ergibt sich daraus eine echte Herausforderung: Welche Aussagen über Karma sind hilfreich und heilsam? Was ist metaphorisch gemeint, was historisch bedingt, was zeitlos relevant?

Es wäre einfach, sich auf nur eine Lesart zu berufen – doch der Dharma lädt nicht zu Dogmatismus, sondern zu achtsamer Reflexion ein. Wie schon das Kalama Sutta nahelegt: Die entscheidende Frage ist nicht, ob eine Lehre „authentisch” oder „orthodox” ist, sondern ob sie in der Praxis zu Weisheit, Mitgefühl und Freiheit führt. Karma als pragmatische ethische Orientierung ist hilfreich.

Mitgefühl statt Metaphysik: Der Kern buddhistischer Ethik

Eine weltliche (säkulare) Betrachtung buddhistischer Ethik kommt durchaus ohne übernatürliche (metaphysische) Elemente wie Karma aus.

Die ethische Grundlage des Buddhismus liegt v.a. in der aktiven Kultivierung von Mitgefühl (karuṇā), ethischer Achtsamkeit (sati) und dem Verständnis von gegenseitiger Verbundenheit (Interdependenz, Pali: paticca-samuppada). Diese Aspekte bilden zusammen eine hinreichende Begründung für ethisches Handeln:

  • Mitgefühl: Wenn ich erkenne, dass alle Wesen Glück suchen und Leid vermeiden wollen, entsteht ganz natürlich der Wunsch, nicht zu schaden.
  • Achtsamkeit: Bei bewusster Wahrnehmung meiner Gedanken und Handlungen wird deutlich, welche davon zu Frieden führen und welche Unruhe stiften – sowohl in mir als auch in anderen.
  • Verbundenheit: Wenn mir klar ist, dass alles miteinander verbunden ist, wird mir auch klar, dass mein Handeln Folgen hat – für mich und andere.

Diese Einsichten bedürfen keiner Begründung durch Wiedergeburt oder kosmische Vergeltung. Sie sind durch direkte persönliche Erfahrung und Reflexion zugänglich und bieten eine solide Grundlage für Tugendethik.

karma buddha

Wenn Karma zur Falle wird: Kritik am Schicksalsglauben

Eine fatalistische Interpretation der Karmalehre kann verschiedene problematische Auswirkungen haben:

  • Fatalismus und Passivität: Wenn alles Leid als vorbestimmtes Karma gesehen wird, läuft man Gefahr, Missstände hinzunehmen. Warum helfen oder Ungerechtigkeiten bekämpfen, wenn die Betroffenen „ihr Karma” ablösen müssen?
  • Verschleierung von Ungerechtigkeit: Im karmischen Denken wird das Leid von Menschen oft als Folge ihrer früheren Taten interpretiert. Dadurch rückt das persönliche Schicksal in den Vordergrund, anstatt die gesellschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen. So kann Armut fälschlicherweise als selbstverschuldet angesehen werden, obwohl sie in Wirklichkeit durch strukturelle Ungleichheiten bedingt ist.
  • Schuldgefühle: In einem strengen, schicksalsergebenen Karmaverständnis gibt es letztendlich nur Verantwortliche, keine wirklichen Opfer. Die Annahme dabei ist, dass jede Person mit ihren Problemen selbst Schuld ist – sozusagen ihr eigenes Unglück geschmiedet hat. Diese Idee stellt für Sanders “..ein ideologisches Ungetüm dar, das der Erbsünde in nichts nachsteht”.7
  • Ignorieren äußerer Einflüsse: Neben individuellen Faktoren wie Absichten und Handlungen, die Karma prägen, beeinflussen auch andere Bedingungen unser Leben: Gene und Vererbung, Kultur und Erziehung, Naturkatastrophen und äußere Umstände sowie soziale und politische Systeme. Im Sivaka Sutta (SN 36.21) erläutert der Buddha, dass Probleme vielfältige Ursachen haben, z.B. Überanstrengung, das Wetter oder krankhafte Zustände.8

Eine Alternative: Karma als ethische Achtsamkeit

Stattdessen können wir Karma als Rahmen für ethisch achtsames Handeln verstehen. Das bedeutet, die eigenen Absichten, Reaktionen, Meinungen, Erzählungen und Überzeugungen bewusst wahrzunehmen und so zu agieren, dass möglichst wenig Schaden entsteht (ahimsa).

In diesem Sinne bedeutet Karma:

  • Meine Absichten und Handlungen haben Konsequenzen – für mich selbst, für andere und für die Welt.
  • Diese Konsequenzen ergeben sich nicht durch kosmische Vergeltung, sondern durch Bedingungen und natürliche Kausalität.
  • Ich kann durch achtsame Reflexion lernen, die Folgen meines Handelns besser zu verstehen und verantwortungsvoller zu agieren.

In einem alten Text (Majjhima Nikaya, MN 61) gibt der Buddha seinem Sohn Rahula den Rat, vor, während und nach einer Handlung zu reflektieren, ob sie Leid für einen selbst oder andere verursachen könnte.9 Ein konkretes Beispiel: Wenn ich überlege, ob ich eine Notlüge erzählen soll, kann ich mir vorstellen, wie es wäre, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Die unmittelbare Folge wäre Vertrauensverlust, nicht irgendeine mysteriöse karmische Kraft.

Der Sinn des Lebens ist somit nicht, ein „gutes Karma” anzusammeln, um in einer fernen Zukunft belohnt zu werden, sondern im Hier und Jetzt ethisch und mitfühlend zu handeln.

Alles wirkt zurück: Karma als Prinzip der Gegenseitigkeit

Das gut erforschte „Wie du mir, so ich dir“-Prinzip zeigt, wie soziale Gegenseitigkeit (Reziprozität) funktioniert: Wir neigen dazu, auf freundliches Verhalten mit Freundlichkeit zu reagieren – und auf verletzendes Verhalten entsprechend negativ. Soziologen und Psychologen betrachten diese Reziprozität als einen zentralen evolutionären und sozialen Mechanismus in Gemeinschaften.

Auch das traditionelle Karma-Prinzip lässt sich als Ausdruck solcher Gegenseitigkeit verstehen. Der Unterschied liegt vor allem im Zeithorizont: Klassisch wird Karma oft mit den Auswirkungen im nächsten Leben verknüpft. Wenn wir Karma jedoch auf dieses Leben beziehen, erkennen wir die Nähe beider Konzepte. Sowohl soziale Gegenseitigkeit als auch Karma machen deutlich: Was wir tun, wirkt auf uns zurück. Metaphorisch verstanden als Prinzip der Gegenseitigkeit und wechselseitigen Bedingtheit, unterstützt Karma ethisches Handeln – nicht durch Drohung oder Versprechen, sondern durch ein tieferes Verständnis von Verbundenheit. Es ermutigt uns, freundlich und kooperativ zu handeln, weil wir erkennen, dass wir Teil eines lebendigen Geflechts gegenseitiger Wirkung sind.

Jenseits von Karma: Ethische Achtsamkeit, Mitgefühl und Verantwortung

Wenn nicht Angst vor Karma, was motiviert dann im Buddhismus zu ethischem Handeln? Drei Kernprinzipien eines säkularen Verständnisses sind:

  • Achtsamkeit (sati) bedeutet, sich der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen im gegenwärtigen Moment gewahr zu sein. Eine achtsame Person spürt unmittelbar, wenn sie lieblos oder mit Hass spricht oder egoistisch handelt – denn sie nimmt die körperlichen Begleitphänomene bewusst wahr. Achtsamkeit schafft also einen inneren Kompass.
  • Verantwortung (kamma als bewusstes Handeln) bildet den Kern des ursprünglichen Karma-Verständnisses. Im Upajjhatthana Sutta heißt es, dass jeder Mensch selbst Eigentümer, Erbe und Träger seiner Taten (kamma) ist.10 Diese Verantwortung ist nicht mit Schuld zu verwechseln. Es geht vielmehr darum, sich als handlungsfähiges Wesen zu begreifen, das durch bewusste Entscheidungen heilsam auf sich und die Welt einwirken kann.
  • Mitgefühl (karuṇā) und liebende Güte (mettā) erinnern uns daran, dass andere genauso verletzlich sind wie wir selbst. Dadurch wird z.B. Gewalt oder Lügen unattraktiv – nicht aus Angst vor Strafe, sondern weil wir das Leid, das wir damit verursachen würden, innerlich nachempfinden können.
  • Wechselseitige Verbundenheit (Interdependenz) liefert das Verständnis, warum unser Verhalten zählt. Die buddhistische Lehre des bedingten Entstehens (paticca-samuppada) zeigt, dass nichts isoliert existiert – alles entsteht in Abhängigkeit von Bedingungen. Diese Erkenntnis bedeutet: Jede unserer Handlungen zieht weite Kreise: Mein Handeln ist verwoben mit dem Handeln anderer und eingebettet in gesellschaftliche und globale Strukturen und Systeme.

Diese Prinzipien reichen als ethische Motivation völlig aus. Sie entspringen der Einsicht in die menschliche Natur und Realität, nicht dem Glauben an hypothetische, unsichtbare karmische Kräfte.

Dadurch sind sie auch universell nachvollziehbar – selbst für Menschen, die mit buddhistischen Konzepten nichts anfangen können.

Der Dharma lehrt eine Tugendethik, die auf Einsicht, Übung und innerer Freiheit basiert, nicht auf Furcht. Tugenden wie Großzügigkeit, Wahrhaftigkeit, Geduld und Güte werden gefördert, weil sie inhärent erstrebenswert sind: Sie führen zu einem friedvollen Geist und harmonischen Gemeinschaften. Hier bedarf es keiner metaphysischen Drohkulisse.

Ein reflektierter Mensch folgt nicht aus Angst vor Bestrafung dem ethischen Pfad, sondern aus Verständnis. Ethisches Handeln wird zur freien Entscheidung, getroffen aus Weisheit und Mitgefühl.

Auf diese Weise können wir das grundsätzlich wertvolle ethische Potenzial des Karma-Konzepts bewahren, ohne die problematischen metaphysischen und deterministischen Elemente zu übernehmen.

Zusammenfassung: Kein Karma

Karma ist in seinem historischen Kontext ein Belohnungs- und Bestrafungssystem im Buddhismus und Hinduismus. In diesem Beitrag wurde stattdessen eine Neuinterpretation von Karma als ethische Achtsamkeit vorgeschlagen, die uns zu verantwortungsvollem und angemessenem Handeln befähigt.

Statt eines deterministischen Modells, das zu Fatalismus, Opferbeschuldigung und Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Faktoren führen kann, bietet eine säkulare Betrachtung eine praktische Alternative: Karma als bewusstes Handeln im Hier und Jetzt, motiviert durch Mitgefühl und das Bewusstsein unserer Verbundenheit mit anderen.

Dieser Ansatz erfordert keine metaphysischen Annahmen, sondern basiert auf direkter Erfahrung und kann somit im eigenen Leben praktisch überprüft werden: Das traditionelle Karma-Konzept wird überflüssig. Wem die alte Vorstellung hilft, ethisch zu leben, für den hat sie ihren Zweck erfüllt. Für andere wandelt sich Karma vom Dogma zum Werkzeug für ein ethisches Leben – nicht aus Angst vor kosmischen Konsequenzen, sondern aus Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit unseres Daseins gemeinsam mit allen Lebewesen.


Praktische Übung

STOPP – Ethische Achtsamkeit kultivieren

Diese Übung hilft dir, in ethisch schwierigen Momenten innezuhalten und bewusst zu handeln.

S – Stoppen
Halte kurz inne. Unterbrich die (geplante) Handlung, den Drang zu sprechen oder eine Gedankenkette. Nimm einen bewussten Atemzug.

T – Tief atmen
Atme ein paar Mal ruhig und tief.
Spüre den Körper.

O – Beobachten (Observe)
Wende den Blick nach innen:
– Welche Absichten hinter deinem Tun kannst du erkennen?
– Was fühlst und denkst du gerade?
– Welche Geschichten erzählst du dir zu der Situation, in der du dich befindest?
– Welche Reaktionsmuster steigen in dir auf?

P – Perspektive erweitern
Erinnere dich an die wechselseitige Verbundenheit (Interdependenz):
– Welche Bedingungen wirken hier zusammen?
– Wie betrifft dein Handeln andere oder den Planeten im weitesten Sinn?
– Was dient dem Wohl – nicht nur deinem?

P – Praktizieren
Handle bewusst, mit Mitgefühl und Klarheit. Auch ein Nicht-Handeln kann heilsam sein.
Spreche den Wunsch aus, dass deine Handlung der Situation und allen Beteiligten angemessen ist.
Freue dich, wenn dein Tun hilfreich war und akzeptiere, dass das nicht immer der Fall sein kann.


Literaturverzeichnis

  1. Sander, Peter (2025): “Warum ich der Karmalehre keinen Glauben schenke”, in: Buddhismus Aktuell 2/25.
  2. Anguttara Nikaya 6.63: Nibbedhika Sutta
  3. Anguttara Nikaya 3.65: Kālāma Sutta
  4. Majjhima Nikaya 135: Cūlakammavibhaṇga Sutta
  5. Davis, Jake H.; Flanagan, Owen. A Mirror Is for Reflection: Understanding Buddhist Ethics (English Edition). Oxford University Press. Kindle-Version.
  6. Ambedkar, B.R. Ambedkar, B.R. zitiert aus Davis, Jake H.; Flanagan, Owen. A Mirror Is for Reflection: Understanding Buddhist Ethics (English Edition) (S.171). Oxford University Press. Kindle-Version.
  7. Sander, Peter (2025): “Warum ich der Karmalehre keinen Glauben schenke”, in: Buddhismus Aktuell 2/25.
  8. Saṃyutta Nikāya 36.21: Sivaka Sutta
  9. Majjhima Nikaya 61: Ambalaṭṭhikārāhulovāda Sutta
  10. Anguttara Nikaya 5.57: Upajjhatthana Sutta

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