Warten und Lauschen – Loslassen in der Meditation

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Von Stephen Batchelor

STEPHEN BATCHELOR, ehemaliger Mönch und bekannter Autor. Er ist Vordenker des säkularen Buddhismus, einer zeitgemäßen Perspektive auf Buddhas Lehre, den Dharma. Er ist Mitbegründer des Bodhi College und lehrt weltweit.

Lohnt sich Meditation?

Wir kommen nicht umhin, uns mit unseren vorgefassten Auffassungen rund um die Meditation auseinanderzusetzen. Wenn wir schon einmal etwas über den koreanischen Son- [Jp. Zen-] Buddhismus gelesen oder gehört haben, dann sind wir bestimmt auf Geschichten von Menschen gestoßen, die spontane Erleuchtungserlebnisse hatten, was leider möglicherweise Samen in unseren Geist eingepflanzt hat. Wir denken: „Donnerwetter, hoffentlich geht mir das genauso!“ Wir beschwören ein Bild auf der Grundlage des Gelesenen herauf und erwarten, dass auch wir ähnliche Durchbrüche haben werden, wenn wir Son praktizieren.

Ich meditiere weil,…

Es ist unmöglich, sich voll und ganz auf eine Aufgabe einzulassen ohne das Gefühl zu haben, dass sie sich lohnt und uns in irgendeiner Weise nützen wird. Bei der Meditation hoffen wir, naturgemäß und durchaus berechtigterweise, dass diese Praxis uns zu Einsicht und Verständnis führen wird. Das ist schlicht eine Begleiterscheinung der menschlichen Erfahrung und wir hätten erst gar nicht mit einer Meditationspraxis begonnen ohne ein gewisses Vertrauen darin, dass sie sich lohnen würde. Und wenn ein Freund Dich fragen würde: „Warum meditierst Du jeden Tag?“, wärst Du vermutlich imstande, Deine Entscheidung vernünftig zu begründen. Du würdest antworten: „Ich meditiere, weil…“ und auf das „weil“ folgt die Erwartung, mit der Du Dich aufs Kissen setzt.

Warten auf was Besonderes?

Dies ist völlig natürlich und an sich ist es auch kein Problem. Es wird nur dann problematisch, wenn diese Erwartung unsere gegenwärtige Erfahrung oder unsere Offenheit für einen Zustand des Nichtwissens überlagert oder unterbricht. Letztendlich kann das Erforschen unserer Erwartungen zu einer eher unbequemen Schlussfolgerung führen, nämlich dass es überhaupt keine Garantie dafür gibt, dass das Erwartete eintreten wird. Auch 10.000 Stunden auf einem Kissen zu sitzen ist keinerlei Garantie für Einsicht oder  “Erleuchtung”, was auch immer damit gemeint sein möge.

Keine Garantie für gar nichts

Wir müssen offen sein für die Tatsache, dass wir vielleicht nichts von dem erreichen, was wir uns als Ziel der Praxis vorgestellt haben. Wir müssen all diese Erwartungen loslassen. Das ist leichter gesagt als getan.

Vielleicht hast Du in Deiner Meditation schon Momente erlebt, in denen Du wirklich still, fokussiert und klar wirst und alles gut zu laufen scheint, was auch immer das heißen mag. Und da meldet sich plötzlich eine innere Stimme und sagt: „Hey – vielleicht stehe ich am Rande einer wirklich tiefgreifenden Erfahrung. Ich fühle, dass etwas Erstaunliches passieren wird!“ Du fängst an, Dich an- und aufzuregen mit dem Ergebnis, dass sich all Deine Stille und Klarheit auflöst und Du wieder in Deine allzu vertrauten und ermüdenden Muster des egozentrischen Denkens verfällst.

Warten ohne etwas zu erwarten

Wie können wir das verhindern, und wie können wir unsere Erwartungen loslassen? Eine Methode besteht darin, die Erfahrung des Wartens bewusst zu schätzen – das Warten, ohne etwas zu erwarten.
Es gibt einen bestimmten Punkt bei jeder Form der Meditation, an dem die Praxis selbst bestätigend wird. Mit anderen Worten, wir tun es nicht wegen eines hypothetischen Ziels, das wir eines Tages erreichen könnten, sondern einfach, weil das Sitzen an sich, per se, sich selbst genügt. Mein Lehrer, der koreanische Son-Meister Kusan Sunim, warnte mich immer davor, „einer Schlange Beine hinzuzufügen“. Einfach nur zu sitzen, konzentriert zu sein, nachzufragen, achtsam zu sein, ist bereits genug. Wir brauchen nichts mehr, keine Erwartungen, hinzuzufügen.

Warten ist eine tiefe Akzeptanz des Augenblicks als solchen, auch wenn wir aktiv meditatives Erforschen praktizieren. Zu Son gehört die Frage „Was ist das?“, ein Hinterfragen ohne Suche nach einer konkreten Antwort. Wir warten nicht auf etwas, wir warten einfach. Wir erkennen, dass unser Verlangen nach einer Antwort die Authentizität des Fragens selbst untergräbt. Können wir uns damit zufriedengeben, einfach in diesem Fragen zu ruhen, und dies auf eine tief fokussierte und verkörperte Weise? Können wir ohne jegliche Erwartungen warten?

Mit diesem Warten ist auch eine besondere Qualität des Zuhörens verbunden. Anstatt einfach nur aufmerksam auf die Krähen in den Bäumen, die Geräusche im Raum oder die Stille der Stille zu hören, betrachtet man das Zuhören als eine Metapher für Meditation.

Es ist hilfreich zu bemerken, dass wir, wenn wir über Meditation sprechen, unbewusst dazu neigen unsere Tätigkeit mit Analogien und Sinneserfahrungen zu beschreiben. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Vipassana. Die Vorsilbe „vi-“ ist ein Verstärker, während „passana“ von „passati“ in Pali kommt, was „sehen“ bedeutet, woraus sich die übliche Übersetzung von „Vipassana“ als „Einsicht“ herleitet. Daher werden wir in der Meditation aufgefordert „den Atem zu betrachten“, „nach innen zu schauen“, „den Geist zu beobachten“…  Die Aufmerksamkeit auf eine innere Erfahrung zu richten, die weder Farbe noch Form hat, wird mit dem verglichen, was wir mit unseren physischen Augen tun.

Ich will damit nicht sagen, dass diese Metaphern in Deiner Praxis keine Rolle spielen sollten. Aber das Aufbrechen der zugrunde liegenden Annahmen, die so sehr Teil unserer Sprache geworden sind, ist ein Weg wie wir beginnen können, die Qualität unseres Wartens zu verändern.  Wie?

Die Kunst des Lauschens

Anstatt zu beobachten oder zu betrachten, wird man manchmal von einem Son-Lehrer angewiesen, zu hören und zu lauschen.

Bei der Anweisung, etwas zu beobachten, neigen wir dazu, den Fokus der Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu verengen und es so aus dem weiteren Blickfeld hervorzuheben, um es genauer betrachten können. Was man betrachtet, ist dann stets etwas außerhalb von einem selbst, irgendwo „da drüben“. Ganz unbewusst nehmen wir eine innere Haltung ein, die den Akt des Sehens nachahmt. Wenn Du meditierst, hast Du vielleicht das Gefühl, dass ein Teil von Dir in Deinem Hinterkopf auf Deinen Körper und Deine mentalen Zustände schaut. Damit hast Du (unbeabsichtigt) eine Distanz zwischen einem Beobachter, der hineinschaut, und einem Objekt, das beobachtet wird, geschaffen.

Beim Lauschen verengst Du Deine Aufmerksamkeit nicht auf einen bestimmten Klang „da draußen“, sondern Du öffnest Dich, um dem Klang zu erlauben, in Dein Inneres zu gelangen. Die innere Haltung, die Du einnimmst, ist nicht die eines distanzierten Beobachters, der auf etwas hinausschaut, sondern eine völlig empfängliche und offene Aufmerksamkeit, die es zulässt, dass Klänge aus allen Richtungen in Dich einströmen. Das ist eine ganz andere innere Haltung. Deine körperliche Haltung mag die gleiche sein, aber Deine geistige Haltung ist das Gegenteil von der, die ein Objekt betrachtet.

Der Komponist John Cage hat ein berühmtes Stück namens “4’33″ geschrieben – ein Pianist kommt auf die Bühne, setzt sich an ein Klavier, berührt aber vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang keine der Tasten. Ich habe nur eine Flötenfassung davon gehört, aber die Wirkung dürfte die gleiche sein. Weil man erwartet, Musik zu hören, stellt man sich auf das Zuhören ein, aber anstatt Klaviermusik zu hören,  wird man auf alle Umgebungsgeräusche im Konzertsaal aufmerksam. Man wird sich der Musik der Umgebung bewusst, der Polyfonie des ganzen Lebens. Nach einer Weile genießt man sie wie ein „echtes“ Musikstück.

Offen für die Vielstimmigkeit der Welt

Wenn wir warten, ohne etwas zu erwarten, erkennen wir, dass die Meditation als solche genug ist. Wenn Du die Frage  „Was ist das?“ stellst, und Du in der Stille zurückbleibst, die auf das Verklingen der Worte folgt, lausche einfach auf ein Echo, ohne eine irgendwie bestimmte Antwort zu erwarten, so wie Du mit Deinen Ohren auf die umfassende Gegenwärtigkeit von Geräuschen achten würdest. Lass die Hoffnungen auf eine bestimmte Erfahrung los, um diese gegenwärtige Erfahrung wirklich wahrzunehmen. Erforsche, wie es sich in Deinem Körper anfühlt, für diese Frage offen zu sein, so wie Du Dich für ein Musikstück öffnest oder mit voller Aufmerksamkeit der Vielstimmigkeit der Vögel und des Windes draußen lauschst, dem gelegentlichen Flugzeug, das über uns fliegt, dem Prasseln des Regens an den Fenstern. Höre aufmerksamer zu und bemerke gleichzeitig, wie dieses Zuhören nicht nur eine Öffnung des Verstandes ist, sondern eine Öffnung des Herzens, eine grundlegende Sorge oder Fürsorge für die Welt, die Quelle dessen, was wir Mitgefühl oder Liebe nennen.

Übersetzung aus „What is this? Ancient questions for modern minds” von Martine Batchlor und Stephen Batchelor, 2019, herausgegeben von Tuwhiri.

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