Vier edle Wahrheiten bzw. die vier Aufgaben (Originaltext)

Von Stephen Batchelor

STEPHEN BATCHELOR, ehemaliger Mönch und bekannter Autor. Er ist Vordenker des säkularen Buddhismus, einer zeitgemäßen Perspektive auf Buddhas Lehre, den Dharma. Er ist Mitbegründer des Bodhi College und lehrt weltweit.

Die Vier Aufgaben (Vier edle “Wahrheiten”)

Dhammacakkappavattana Sutta (Lehrrede vom Drehen des Dharma-Rades)

“Dies habe ich gehört. Der Lehrer weilte in Benares im Wildpark bei Isipatana. Da wandte er sich an die Gruppe der fünf Mendikanten.

»Da gibt es, bhikkhus, zwei Sackgassen, die jene, die fortgegangen sind, nicht verfolgen sollten. Welche zwei? Süchtigsein nach Vergnügen durch Schwelgen in Sinnlichkeit, was nieder ist, unkultiviert, passend zu einer nicht-erwachten Person, unwürdig und unerfüllend; und Süchtigsein nach Selbst-Bestrafung, was schmerzhaft ist, unwürdig und unerfüllend.

Der mittlere Weg, bhikkhus, zu dem der tathāgata erwacht ist, führt nicht zu diesen beiden Sackgassen, sondern bringt eine Sicht und Kenntnis hervor, die zu einem Zur-Ruhe-Kommen, zu in Klarheit gegründetem Verstehen, Erwachen und Nirvana beiträgt.

Und was, bhikkhus, ist dieser mittlere Weg …? Es ist genau dieser edle achtfache Pfad- das heißt umfassende Sicht, umfassende Absicht, umfassendes Sprechen, umfassendes Handeln, umfassender Lebenserwerb, umfassendes Bemühen, umfassende Achtsamkeit und umfassende Konzentration …

Dies ist dukkha: Geburt ist dukkha, Altern ist dukkha, Kranksein ist dukkha, Tod ist dukkha, Ungeliebtem begegnen ist dukkha, von Liebem getrennt sein ist dukkha. Kurzum, die fünf Bündel des Anhaftens sind dukkha.

Dies ist das Entstehen (samudaya):

es ist Verlangen (tanha), das sich wiederholt, im Anhaften und in Gier sich suhlt, obsessiv in diesem und jenem schwelgt – Verlangen nach Stimulanz, Verlangen nach Dasein, Verlangen nach Nicht-Dasein.

Dies ist das Aufhören:

das restlose Verblassen und Aufhören des Verlangens (tanha), das Loslassen und Aufgeben hiervon, die Freiheit und Unabhängigkeit hiervon.

Und dies ist der Pfad:

ein Pfad mit acht Zweigen – umfassende Sicht, umfassende Absicht, umfassendes Sprechen, umfassendes Handeln, umfassender Lebenserwerb, umfassendes Bemühen, umfassende Achtsamkeit und umfassende Konzentration.

So ist dukkha.

Es kann umfassend verstanden werden. Es ist umfassend verstanden worden.

So ist das Entstehen. Es kann losgelassen werden. Es ist losgelassen worden.

So ist das Aufhören. Es kann betrachtet werden. Es ist betrachtet worden.

So ist der Pfad. Er kann kultiviert werden. Er ist kultiviert worden.

So stieg in mir Klarheit auf über Dinge, die zuvor unbekannt waren.

Solange meine Kenntnis und meine Sicht hinsichtlich der zwölf Aspekte dieser vier nicht vollkommen klar waren, habe ich nicht behauptet, ein unvergleichliches Erwachen in dieser Welt mit ihren Menschen und Himmelswesen, ihren Göttern und Teufeln, ihren Wanderern und Brahmanen zu besitzen. Erst als meine Kenntnis und meine Sicht in Hinblick all dieser klar waren, habe ich behauptet, ein solches Erwachen erlangt zu haben.

Die Freiheit meines Geistes ist unerschütterlich. Geburt ist überwunden; das spirituelle Leben ist gelebt; was getan werden musste, ist getan; es wird keine sich wiederholende Existenz mehr geben.«

Das ist, was er sagte. Inspiriert erfreuten sich die fünf an seinen Worten. Während er sprach, stieg in Kondanna das leidenschaftslose, unbefleckte Dharma-Auge auf: »Was immer dem Entstehen unterworfen ist, ist dem Aufhören unterworfen.”

Übersetzung des Pali-Textes durch Stephen Batchelor, “Jenseits des Buddhismus”, S. 481ff. und S. 181 ff.; Basis Saṁyutta Nikaya 56.11

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