Was hat der Buddha wirklich gesagt und gelehrt? – Eine Bestandsaufnahme aus philologischer Sicht

pali palmblätter

Von Michael Radich

Prof. Michael Radich, neuseeländischer Buddhologe an der Universität Heidelberg

Erkenntnismöglichkeiten und ihre Grenzen aus wissenschftlicher Sicht

Mein vorweggenommenes Fazit mag für manche wie eine Hiobsbotschaft klingen:

  1. Wir können es paradox formulieren: wissenschaftlicher Konsens ist—und auch das ist höchstens ein schwacher Konsens—dass es keinen Konsens über die ursprüngliche Lehre gibt, beziehungsweise keiner möglich ist.
  2. Wir finden in der betreffenden Literatur statt eines Konsenses eher einen Friedhof oder einen Trödelladen zahlreicher verschiedener Versuche und Hypothesen. All diese Theorien sind miteinander nicht vereinbar. Ihre Befürworter vermuten stets, dass die Befürworter der entgegengesetzten Theorien, d. h. die Gegner der eigenen Theorie, nur ihre eigene Vorverständnisse in verschleierter Gestalt auf den Buddha projizieren.
  3. Des Pudels Kern ist hierbei keine Frage des Inhalts oder des Beweises, sondern der Methodik, also der Art und Weise, wie wir die gestellte Frage untersuchen. Nun ist Methodik womöglich für viele ein trockenes Thema, bei dem manche lieber abschalten. Dennoch hoffe ich Sie davon überzeugen zu können, dass bei diesem Thema die Probleme der Methodik tatsächlich zu den Antworten führen.
  4. Die festgefahrene Lage ist kein Ergebnis der Bequemlichkeit oder Verwirrtheit der Wissenschaft. Vielmehr ist sie eine nachvollziehbare Konsequenz des historischen Verhältnisses zwischen uns und der Zeit des Buddhas, weshalb es keine große Hoffnung gibt, dass die Situation sich zeitnah verbessert. Ich nehme zuerst den letzten Punkt auf.

Warum tut sich die Wissenschaft so schwer, dieses wichtige und grundliegende Problem zu lösen?

 

Der historische Weg der buddhistischen Überlieferung

In der Zeit des historischen Buddhas war Indien noch, soweit wir wissen, eine rein mündliche Kultur. Das heisst, der Buddhismus ist über mehrere Jahrhunderte unter den Bedingungen einer gewissen Form von sogenannter Oralität (mündlicher Überlieferung) entstanden, entwickelt, und überliefert worden.

 

Die Überlieferung hat sich früh in mehrere Zweige aufgespalten—ein wichtiger Punkt, zu dem ich später zurückkomme—aber die früheste bekannte Niederschrift des Kanons bleibt die des Palikanons, gegen 100 vor unserer Zeitrechnung. Das Datum des Buddhas ist auch ein umstrittenes und möglicherweise unlösbares Problem, aber die Mehrheit der Experten nimmt mit Gombrich an, dass er gegen 400 vor unserer Zeitrechnung starb. Wenn das so ist—und diese sogenannte “neue Rechnung” verortet den Buddha später in der Geschichte als die früher gängigen Theorien—würde dies bedeuten, dass mindestens 300 Jahre lang eine vollständig mündliche Überlieferung stattgefunden hätte, bevor auch nur ein einziges Wort auf Palmblätter oder Birkenrinde geschrieben wurde.

 

Von der mündlichen Überlieferung zur ersten Niederschrift des Palikanons

Nun müssen wir die Tatsache anerkennen, dass die buddhistischen Traditionen sehr komplizierte und ausgeklügelte Mechanismen entwickelt haben, um die Texte sehr genau mündlich zu erhalten und zu übertragen, und wir dürfen deshalb nicht vereinfachend davon ausgehen, dass mündliche Übertragung auf eine Verzerrung des Inhalts hinauslaufe. Dennoch wissen wir nicht, von wem und wann diese Mechanismen erfunden wurden.  Wir haben meines Wissens keine Indizien dafür, dass der Buddha selbst etwas damit zu tun gehabt haben könnte und die Mechanismen der mündlichen Überlieferung selbst bedingen und reproduzieren eine inhaltliche Gestaltung und Strukturierung, die vom Inhalt selbst nicht ohne weiteres zu trennen ist.

Obendrein stoßen wir zuweilen auf Hinweise, dass die vorgenannten Gegebenheiten für die Tradition selbst ein Problem darstellten. Dies sehen wir am deutlichsten an der Rolle von Ānanda bei der Überlieferung der Worte Buddhas. Wie traditionell berichtet wird, wurde unmittelbar nach dem Ableben des Buddhas ein Konzil bei Rājagṛha einberufen, um die Frage zu regeln, wie die Lehre erhalten und übertragen werden sollte. Der wesentlichste Kern aller Versionen ist nach den Ergebnissen der Forschung Tsukamotos, dass die anlässlich dieses Konzils kanonisierten und textuell etablierten Lehrreden alle zuerst -sozusagen als Rohstoff dieses Verfahrens- makellos von Ānanda wiedergegeben wurden.

 

Ananda als Mega-Gedächtnis für alle Lehrreden

Ānanda war ein Vetter des Buddhas, der diesen als stetigen Begleiter seines Stammesbruders und Meisters lebenslang unterstützte. Narrativ-logisch betrachtet bedingt dieser Umstand die Notwendigkeit, dass Ānanda und kein anderer diese Rolle erfüllte, weil es sonst keinen gäbe, der alle Lehrreden gehört hätte, und dadurch deren Inhalt hätte weitergeben können. Das bedeutet: Jedes Mal, wenn wir die unsterblichen Worte hören “Das habe ich gehört” (“Thus have I heard”, evaṃ mayā śrutaṃ, 如是我聞 usw.), ist das “Ich” darin Ānanda. Theoretisch sind dann alle Worte des Buddhas (buddhavacana) zugleich die Worte Ānandas.

Aber unmittelbar darauf folgt die Frage: Das ist eine beträchtliche Menge von Texten. Wie konnte es gewährleistet werden, dass Ānanda sich so viel so genau einprägen, auswendig lernen und wortgetreu wiedergeben konnte? Dies gilt besonders unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ānanda, als der Buddha noch am Leben war und er einer Lehrrede zuhörte, nicht hätte wissen können, dass er eines Tages diese Rolle eines verkörperten Tonbandgeräts erfüllen müsste? Hier hat die Tradition eine interessante Lösung parat. Unter allen Anhängern des Buddhas war gerade Ānanda, der das hervorragendste Gedächtnis hatte.

Natürlich ist es wunderbar -im buchstäblichen Sinne- wenn es sich herausstellt, dass der Einzige, der immer dabei war, zufälligerweise eines der besten Gedächtnisse aller Zeiten hat. Nun können wir selbstverständlich nicht a priori schlussfolgern, es sei unmöglich, dass Ānanda über ein solches Gedächtnis verfügte. Es läßt sich sehr gut beweisen, dass die Gelehrten in mündlichen Gesellschaften in dieser Hinsicht  das deutlich übertrafen, was für einen durchschnittlichen modernen Menschen überhaupt vorstellbar ist. Auch die moderne Wissenschaft berichtet von vereinzelten Fällen ähnlicher Gedächtnisleistungen, wie beispielsweise von einem etwas erbarmenswerten Mann, der vom russischen Psychologen Luria erforscht wurde und teilweise die Basis für die Geschichte von Borges mit dem Titel “Das unerbittliche Gedächtnis” gewesen sein soll. Dennoch kommt es uns mit der gängigen, skeptischen Sichtweise unserer Zeit fraglich vor, ob das alles in Wirklichkeit so gelingen konnte. Der Gedanke liegt nahe, dass wir hier einer Art “just-so story” d.h. einer ätiologischen Sage begegnen, die als Feigenblatt einen wunden Punkt überdeckt.

Tatsächlich sind die Fakten komplizierter, aber ich möchte diese schemenhafte Skizze für das Ganze stehen lassen. Ich denke, dass der Umriss des Problems dadurch klar geworden ist: Alles, was wir an der Lehre des Buddha haben, ist durch den Flaschenhals der mündlichen Tradition überliefert worden, den wir uns ganz bildhaft in dem einzigen Mund Ānandas verbildlichen können. So ist es kein Wunder, wenn es sich schwierig gestaltet, durch dieses Medium auch schemenhaft einen Blick auf den Buddha selbst zu erhaschen.

 

Welche Sprache hat der Buddha gesprochen?

Aufgrund dieser Art der Überlieferung der Tradition, stochern wir von Anfang an gezwungenermaßen im Nebel. Ein Indiz für den Schweregrad dieses Problems liegt darin, dass wir nicht einmal wissen, welche Sprache der Buddha sprach, geschweige denn welche Wörter oder Sätze genau er in dieser mutmaßlichen Sprache geäußert haben mag.

Diese Tatsache scheint immer noch durch eine weit verbreitete Mär vor manchen Augen verborgen zu bleiben, nämlich, die irrtümliche Idee, dass die Pali-Sprache die ursprüngliche Sprache des Buddhismus sei. In Wirklichkeit sind alle Texte des Pali-Kanons bloße Übersetzungen. Es blieb übrigens auch umstritten, ob Pali je eine gesprochene, sogenannte “natürliche” Sprache war, oder von Beginn an als künstliche Literatursprache auf die Welt kam.

Noch einer Mär begegnen wir manchmal zum selben Thema, wenn uns erzählt wird, dass der Buddha auf Ardhamāgadhī sprach und lehrte. Ardhamāgadhī, auch als Jaina-Prakrit bezeichnet, ist die kanonische Sprache der Jaina-Tradition. Klammern wir der Einfachheit halber das erste Kompositumsglied ardha- aus. Māgadhī bedeutet “Sprache der Magadha”. Deshalb wirkt diese Behauptung aus geographischer Sicht plausibel, denn der Buddha lebte und lehrte hauptsächlich in Magadha, genau wie der Gründer des Jainismus, sein Zeitgenosse Mahāvīra. Genauer genommen bestehen jedoch beim Jainismus ähnliche Probleme wie die, die ich jetzt für den Buddhismus beschreibe. Ardhamāgadhī ist die Sprache, in der die frühsten Jain-Texte verfasst worden sind, was aber die Vermutung nicht rechtfertigt, dass Mahāvīra selbst genau dieselbe Sprache benutzte, geschweige denn der Buddha.

Deshalb müßen behutsame und akribische Forscher mit dieser Frage der eigenen Sprache Buddhas indirekter und spekulativer vorgehen. Beispeilsweise untersucht Norman sehr genau und ausführlich den Kanon vor dem Hintergrund von Regelmäßigkeiten der Pali-Grammatik, um abweichende Formen aufzustöbern. Auf dieser Grundlage argumentiert er, dass gelegentlich vorkommende Phoneme, Endungen, bzw., wenn wir viel Glück haben, eine Handvoll ganzer Wörter Relikte oder Spuren der dahinterliegenden Sprache sind, und dies ermöglicht es ihm gewissermaßen, in die Richtung einer schwammigen Ahnung der Merkmale dieser Sprache zu verallgemeinern. Ein gutes Beispiel für die Ergebnisse seiner Untersuchungen ist die Tatsache, dass “Mönch” oder genauer gesagt “Bettelmönch, Mendikant” mit dem Wort bhikkhu bezeichnet wird, statt des aus den Regeln abzuleitenden *bhicchu. Offensichtlich sind wir immer noch weit davon entfernt, inhaltlich über die Lehre Bescheid zu wissen. Leider muss das Fazit sein, dass uns im engeren Sinne des Wortes von den ipsissima verba des Buddhas -seinen eigenen Worten- gar nichts übrigbleibt.

Jetzt haben wir uns die historischen Bedingungen des Problems und seinen Schweregrad klar vor Augen geführt. Stellen wir dann zunächst die Frage: Wie gehen die Wissenschaftler damit um?—Eine Frage, die leider zu oft zu nah an einer täuschend ähnlichen Frage liegt, nämlich, wie umgehen die Wissenschaftler dieselbe?

 

Philologische Methodik – die Werkzeugkiste der Sprachwissenschaft

Hier kommen wir zum Thema Methodik. In der Forschungsgeschichte sind mehrere verschiedene Versuche unternommen worden, dieses Problem zu lösen. Der größte Unterschied besteht darin, dass es mehrere verschiedene Voraussetzungen und Ansätze gibt, auf denen ein solcher Versuch basieren kann. Betrachten wir dann einen Querschnitt davon, damit wir die Beziehungen zwischen Annahmen und Befunden begreifen können.

 

Die Methode “vergleichen und Muster erkennen

Eine erste grundlegende Weggabelung, vor der alle Forschern sogleich stehen, besteht in der Frage, was man von dem Verhältnis zwischen begrifflichen Regelmäßigkeiten und Sonderfällen hält. Tatsache ist, dass der Kanon als Ganzes betrachtet zahlreiche Widersprüche und auseinandergehende Tendenzen beinhaltet. Zugleich geben fast alle Forscher zu, dass er ein beträchtliches Maß von wiederholten, miteinander kompatiblen Ideen und Textbausteinen beinhaltet, manchmal in einem Ausmaß, dass die Wiederholungen fast todlangweilig werden, es sei denn, man ist von der Frömmigkeit völlig berauscht. Nun lautet die Gretchenfrage folgendermaßen: Erstens, wo verorten wir dieses einheitliche und massereiche Gravitationszentrum in der Geschichte und Struktur des Kanons insgesamt? Und zweitens, wo ziehen wir die Linie zwischen Normen und Sonderfällen? Wie viele Details müssen von einem Muster abweichen, bevor wir sagen, dass das daraus entstandene Phänomen etwas ganz Neues und anderes ist? Angesichts dieses Knackpunkts finden wir uns im Grunde mit zwei entgegengesetzten Denkweisen konfrontiert.

Entweder stellen wir uns vor, dass das ursprüngliche Denken des Buddhas in hohem Grad einheitlich und systematisch war, und die Tradition danach durch Missverständnisse, Innovationen und Vermischung langsam auseinanderwuchs; oder wir stellen uns vor, dass die Tradition eine unaufhaltsame Macht darstellt oder ausübt, die alles allmählich vereinheitlicht, ausgleicht und nivelliert. In beiden Fällen gehen wir von einem wesentlichen Unterschied zwischen dem Gründer der Tradition, als einem aus der Menge hinausragenden Genies, und der Menge selbst aus, jedoch in ganz unterschiedlicher Weise.

Beim ersten Ansatz besteht der Unterschied in der Tatsache, dass das Gründer-Genie so kraftvoll und konsequent denkt, dass die Menge nicht mitkommt, wohingegen die Menge gespalten und zerrissen ist und zum Chaos neigt.

Beim zweiten Ansatz besteht die Genialität des Gründers darin, dass er so außergewöhnlich denkt und spricht. Die Besonderheit der Menge dagegen wäre dann, dass niemand für sich selbst denkt, und in den Händen der Menge alles zum selben einheitlichen grauen Durchschnitt zurück tendiert. Hinter diesen beiden Polen der können wir mühelos Muster erkennen, die sich in den typischen modernen Diskursen über Geistesgrößen wiederfinden.

 

Kann man Spuren eines vorkanonischen Buddhismus erkennen?

So vertritt zum Beispiel beim ersten Ansatz eine geringe Anzahl früherer Studien die interessante These, einige in den Winkeln des Kanons versteckte Lehrreden hätten Spuren eines sogenannten “vorkanonischen Buddhismus” überliefert und erhalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Lehre des sogenannten sechsten Elements. Üblicherweise spricht der frühe Buddhismus, wie andere indische Systeme, von vier Elementen, nämlich, Erde, Wasser, Feuer und Luft bzw. Wind, oder anders gesagt, Festigkeit, Flüssigkeit, Hitze und Bewegung. Nicht selten kommt noch ein fünftes Element dazu, nämlich der Himmel bzw. der leere Raum. Recht selten ist aber eine weitere Variante, nach der es ein sechstes Element gibt, nämlich das Bewusstsein. Gelehrte wie Keith, Schayer und (etwas später) Lindtner haben die Möglichkeit erörtert, dass es sich hier um ein Überbleibsel einer sehr frühen Phase der Entwicklung der Lehre handelt. Diese könnte eventuell den Ausgangspunkt einer Entwicklung darstellen. Der Buddhismus könnte sich dadurch von einem dem Brahmanismus der Upaniṣaden nahestehenden Beginn, der einen Monismus darstellt und in dem der Geist zentral steht, allmählich in die Richtung der radikaleren Lehre der anātman- gegebenenfalls “Nicht-Ich”, “Nicht-Selbst” oder “Persönlichkeitslosigkeit” verwandelt haben. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich diese Theorie überzeugend finde, und auch nicht auf die Theorie selbst eingehen. Der Punkt liegt eher in der von diesem Beispiel dargestellten Methodik. Die Seltenheit der Lehre des sechsten Elements innerhalb des Kanons wird hier als Hinweis verstanden, dass sie sehr alt war und deshalb als maßgeblich galt, obwohl sie mit der späteren entwickelten Orthodoxie in Konflikt kam, sodass es nicht möglich war, sie einfach aus dem Kanon zu tilgen. Deshalb, so diese Theorie, ist sie wie ein Fossil unter späteren Schichten des Kanons erhalten geblieben.

Aber es wäre auch möglich, dieselben Nachweise von den Voraussetzungen des o.g. zweiten Ansatzes  ausgehend ganz gegensätzlich auszulegen. Stellen wir uns vor, ein ursprünglich reiner Buddhismus habe, nachdem er in einem gewissen Grad populär wurde, Konvertiten aus dem brahmanistischen Milieu herangezogen. Einige von ihnen konnten jedoch die Überzeugungen aus ihrer früheren Bildung nicht an der Schwelle des Buddhismus aufgeben. Stattdessen hätten sie ein brahmanistisches Denkmuster in buddhistische Begriffe umgekleidet, mit dem Ergebnis, dass eine solche Hybride oder Mischform am Rand des Kanons entstanden wäre.

Dieses Beispiel ist zugegebenermaßen eine hypothetische Deutung, aber ähnliche Erklärung und Hypothesen gibt es in der Literatur. Zum Bespiel haben Forscher darüber gerätselt, warum der Kanon mehrere verschiedene Modelle von dhyāna gleichzeitig beschreibt. Das Modell von vier dhyānas ist wohl das bekannteste, aber wir finden zugleich ziemlich häufig ein anderes Modell, das aus acht dhyānas besteht. Obendrein entdecken wir in dem berühmten Mahāpanirvāṇa-sūtra einen sehr seltsamen Passus, in dem der sterbende Buddha zuerst der Reihe nach durch alle acht dhyānas nacheinander auf das achte hinaufsteigt, danach noch einmal nach unten bis zum ersten hinabsteigt, und dann bis zum vierten zurückkehrt, von wo er schließlich ins parinirvāṇa übergeht—als ob er in einem funktionsuntüchtigen Fahrstuhl eingesperrt wäre. Dieses rätselhafte Element der Geschichte haben einige analog zu meinem hypothetischen Beispiel erklärt, nämlich, die höheren vier dhyānas seien eine spätere Ergänzung zu einem ursprünglich viergliedrigen Satz; die Ergänzung habe zur einem gewissen Ungleichgewicht in dieser Geschichte geführt; deshalb hätten noch spätere Tradenten (Überlieferer) ungeschickt versucht, die Schweißnaht abzuschmirgeln, ohne perfekten Erfolg.

Kann ein historischer Kern aus dem (Pali-) Kanon isoliert werden?

Wenden wir uns an eine andere Art von Voraussetzung zu, die auch angewandt worden ist, um innerhalb des Kanons die Spreu vom Weizen zu trennen, und dadurch auf die frühste Lehre zu kommen. Besonders in früheren Generationen der Forschung war es oftmals gängig, davon auszugehen, dass ein vermutlicher “historischer Kern” hinter dem Kanon stecke, der von späteren Schichten des “Zuwachses” differenzierbar sei, und sogar hauptsächlich durch zwei Kriterien.

Erstens, historische Ereignisse geschehen in der historischen Welt, anders gesagt, in der materiellen Welt, wo alles immer nach den Regeln der Naturwissenschaft und mit dem menschlichen Verstand konform passiert, und nicht darüber hinaus. Somit gab es keine Wunder, und wo immer übernatürliche Ereignisse beschrieben werden, sah diese Sichtweise die Spuren späterer Hände.

Zweitens, der Buddha selbst wurde nach dem Muster eines vernünftigen Menschen abgebildet, und dadurch eine ähnliche Vorgehensweise den Inhalts der Lehre betreffend auch gerechtfertigt. Wo im sogenannten “goldenem Mund” des Buddhas von übernatürlichen Phänomenen die Rede ist, können wir auch unwesentliche spätere Schichten erkennen, und diese dementsprechend vom Kern abtrennen. So jedenfalls die Theorie. Auf dieser Basis haben einige Gelehrte große Theorien über den Entwicklungsprozess fast des gesamten Kanons aufgebaut. Dabei entstehen drei große Probleme.

Problem 1

Zum einen haben wir keinen objektiven Beweis dafür, dass alle übernatürlichen Bausteine unbedingt später sind als jegliche anderen Elemente. Mehrere verschiedene Versionen der Geschichte der Erleuchtung des Buddhas stimmen zum Beispiel miteinander überein, indem sie berichten, ein unabsehbarer Bestandteil des Vorgangs sei der Erwerb des Wissens von früheren Lebenszeiten gewesen. In ähnlicher Weise sind die archäologische Beweise für den Stūpa-Kultus genau so früh wie alle textuellen Beweise, die uns zugänglich sind, zum Beispiel in den Inschriften des Kaisers Aśoka. Aśoka behauptet, einen Stūpa des Buddhas der fernen Vergangenheit Koṇāgamana vergrößert zu haben. Alles Wissen über die Buddhas der Vergangenheit beruht jedoch auf demselben übernatürlichen Vermögen unseres Buddhas, zu dem er in der Nacht der Erleuchtung gelangt ist.

Ein zweites Beispiel: Der Sāmaññaphala-sutta/Śrāmaṇyaphala-sūtra, von Neumann als “Lohn der Asketenschaft” übersetzt, beschreibt in einem langen Passus eine merkwürdige Phase der geistigen Entwicklung. Der meditierende Mönch bemerkt,  unmittelbar nachdem er die vier dhyānas beherrscht, zuerst, dass sein fleischlicher Körper dreckig, unrein, vergänglich und zerbrechlich, und deshalb unwürdig ist; und dass sein Bewußtsein dennoch sozusagen ein Gefangener dieses wertlosen Körpers ist. Sogleich schafft er sich einen anderen Körper “aus Geist”, den er aus dem fleischlichen Körper zieht, wie ein Schwert aus der Scheide, oder eine Schlange, die sich häutet. Mit diesem Körper ist es dem Mönch nun möglich, durch Wände zu gehen, fliegend durch den Kosmos zu reisen, usw., und er erwirbt auch das Vermögen alle Laute des Universums zu hören, die Geiste und Schicksalswege aller Lebewesen dirket wahrzunehmen, usw.. Nun ist dieser Passus, der übrigens selten in den modernen Quellen erwähnt wird, in dem Pali-Kanon äußerst verbreitet—er kommt in 8 unter 13 Sūtren des ersten Vaggas des Dīghanikāyas vor- und die übernatürlichen Kräfte, von denen er erzählt, noch verbreiteter. Dies gilt fast genauso gut für die chinesischen Quellen. Von daher handelt es sich hier um überhaupt nichts Unwesentliches, sondern um einen stabilen und wohl alten Textbaustein und Idee. Zusammenfassend dürfen wir sagen, dass das Übernatürliche sich nicht so einfach aus der frühsten Schicht des Kanons ausstoßen lässt.

Problem 2

Das zweite Problem bei dieser Theorie: Auch wenn wir dadurch zuverlässig einige spätere Elemente identifizieren und herausfiltern könnten, ist das, was übrigbliebt, deshalb nicht unbedingt alt. Hierauf brauchen wir nicht detailliert einzugehen. Es ist leicht nachvollziehbar, daß spätere Tradenten auch unauffällige, rein doktrinelle, sogar vertrocknete Elemente hinzufügen könnten, genauso gut wie Fabeln und Wunder.

Problem 3

Das dritte Problem ist, dass diese Methodik klar und deutlich auf sehr vereinfachten Vorstellungen von Geistesgrößen und dem vermeintlich gemeinen Volk beruht. Besonders Geistesgrößen, die die Wahrheit durchdrungen haben sollen, seien genauso vernünftig wie wir, und die Wirklichkeit, die sie wahrnehmen, sei im Grunde mit dem, was wir Wirklichkeit nennen, deckungsgleich oder mindestens vereinbar. Die gesichtslosen Volksmassen dagegen sind abergläubisch, denken einfach, sehnen sich stetig nach billigem Staunen, und neigen zu unkritischem Glauben—und dies umso mehr, je ferner sie sich in der Vergangenheit befinden. Aus diesen zwei vereinfachten Bausteinen baut diese Methodik eine schlichte Erzählung von einem tadellosen ursprünglichen Lehrsystem und seinem allmählichen Verderb durch den korrumpierenden Einfluss des dummen Volkes. In einigen Studien begegnen wir einem solchen Ton sogar explizit. Die beiden Arten von Methodik, die ich bisher als Beispiele genannt habe, habe ich absichtlich ausgewählt, weil die Denkweisen, die dahinter stecken, schon etwas veraltet sind.

Deswegen ist es leichter, von unserem heutigen kritischen Aussichtspunkt aus zu sehen, was es dabei alles an modernen Voraussetzungen und Voreingenommenheiten gibt—zum Beispiel, die Idee, dass die breite Masse abergläubisch und ignorant sei; oder dass die sogennanten Weltreligionen die Erfindungen überzeitlicher, allgemeingültiger Genies seien, die über die historischen Bedingungen hinaus freikommen, und kontextlos für alle Menschen aller Zeiten von gleicher Bedeutung sind. Trotzdem ziele ich damit nicht darauf, dass wir verstehen sollten, dass wir jetzt im 21. Jahrhundert schon besser sind, und nicht mehr so einfach in solche Fallen tappen. Ganz im Gegenteil, denke ich, sollten wir nicht so leicht auf unsere oftmals großartigen Vorgänger herabsehen, und ich nehme sogar an, dass wir gerade sehr ähnliche Fehler begehen, wobei der einzige Unterschied darin liegt, dass wir nicht die nötige Perspektive auf uns selbst haben, um die Fehler als Fehler zu identifizieren.

 

Die zuverlässigste Methode zur Einordnung historischer buddhistischer Texte

Es gibt andere und etwas bessere Methoden, die angewendet werden, um die frühe Lehre zu identifizieren. Die zuverlässigste darunter ist, meines Erachtens, die vergleichende Methode. Diese geht von der Tatsache aus, dass sich ab ungefähr dem Zeitalter Aśokas, also dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeit, die Gemeinde so weit verbreitet hatte, dass aus ihr mehrere gewissermaßen voneinander unabhängige Übertragungsgruppen und Zweige der Tradition enstanden. Wir gehen deswegen relativ sicher in der Annahme, dass der allen Zweigen der Überlieferung gemeine Erzählstoff bzw. Lehrinhalt älter ist als diese Verstreuung der Gemeinde. Eine solche Methodik haben einige der hervorragendsten Buddhologen angewendet, beispielsweise Erich Frauwallner und Hirakawa Akira, um den frühsten Kern des Vinayas und dessen Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren; oder Ernst Waldschmidt, um die älteste Version des Mahaparinirvāṇa-sūtra –d.h. der Sūtra des vollkommenen Erlöschenszu identifizieren; oder André Bareau, zum selben Zweck wie Waldschmidt, und darüber hinaus, um die frühste Lebensgeschichte des Buddhas im Ganzen zu erforschen.

Diese Methodik war für eine frühere Generation der Forschung gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts charakteristisch. Seitdem ist sie einigermaßen zurückgetreten. In den letzten Jahren wurde sie aber undermüdlich und akribisch von Bhikkhu Anālayo angewandt und in mehreren Reihen publiziert. Dazu zählt insbesondere seine bahnbrechende und beeindruckende Habilitationsschrift, welche eine gründliche vergleichende Analyse des ganzen Majjhima-nikāyas darstellt. Diese Methodik ist jedoch sehr anspruchsvoll und mühsam. Um sie erfolgreich durchzuführen muss man mindestens Pali, Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch können, ganz abgesehen von den modernen Sprachen, in denen die Sekundärliteratur verfasst ist. Deswegen ist es kein Wunder, dass wir bisher bei weitem nicht so viele Studien haben, wie wir uns wünschen würden.

 

Die Mär vom Palikanon als buddhistischem Ur-Kanon

Außerdem gibt es wahrscheinlich einen anderen Grund, weshalb diese Methode nicht so oft und konsequent benutzt wird wie es wünschenswert wäre, nämlich, die Mär vom Pali-Kanon als Urkanon. Wie schon erwähnt wurde der Pali-Kanon erst gegen 100 vor unserer Zeit schriftlich festgehalten. Von daher kann uns der Nachweis dieses einzigen Kanons allein genau genommen nicht viel über den Stand vor dem letzten Jahrhundert vor unserer Zeit mitteilen. Auch wenn feinere Methoden wie die Sprachanalyse ins Spiel kommen, sind die Möglichkeiten begrenzt. Im Vergleich dazu bestehen bei Einsatz der vergleichenden Methode mehr Chancen, an frühere Daten heranzukommen. In dieser Hinsicht erscheint es mir leicht erstaunlich, wie viele Forscher, die sich für die frühe Lehre interessieren und sie zum Gegenstand ihrer Forschung machen, bis zum heutigen Tag gar kein Chinesisch lesen können. Diese Mangel stellt eine große Schwäche ihrer Forschung dar.

 

Auch die vergleichende Methode ist nicht der Stein der Weisen

Trotz ihrer Vorteile gibt es auch bei dieser Methodik Probleme. Erstens sind ihre Voraussetzungen überhaupt nicht unumstritten. An Versuchen wie Frauwallners Forschung über den Vinaya, zum Beispiel, hat Schopen, auch ein sehr profilierter Forscher, kritisiert, dass es wohl möglich sei, dass die verschiedenen Zweige der Tradition sich auch nach der Verstreuung der Gemeinde, miteinander ausgetauscht haben, und ihre jeweiligen Versionen der Klosterregeln vereinheitlicht haben.

Ein zweiter Aspekt der Methode, der uns zu denken gibt, besteht in der Tatsache, dass sie in einem gewissen Grad vielleicht eher für die Analyse des Erzählstoffs als der Lehre geeignet ist. Es gibt zudem ein noch größeres Problem: Weil die unter Aśoka vonstattengegangene Verstreuung erst etwa anderthalb Jahrhunderte nach dem Ableben des Buddhas geschah, gelangen wir durch diese Methode vielleicht zur Form der Lehre im dritten Jahrhundert, nicht aber darüber hinaus zu der Lehre des Buddhas selbst.

 

Das Prinzip der Verlegenheit und andere Prinzipien

Eine andere Gruppe von Methoden wurde von Jan Nattier aus dem Bereich der Neutestamentlichen Wissenschaften in unser Gebiet eingebracht. Diese Methoden bestehen aus eine Gruppe von drei höchst interessanten Vorannahmen, und zwar:

Erstens, etwas, was der Tradition peinlich ist, oder sie in Verlegenheit bringt, ist wahrscheinlich historisch und hat eine Basis in Fakten, das sogenannte “Prinzip der Verlegenheit”.

Zweitens, etwas,  was für die Tradition unwesentlich bzw. irrelevant ist, ist wahrscheinlich auch historisch, das “Prinzip der Bedeutungslosigkeit”. Der Gedanke hinter diesen beiden Prinzipien ist, wenn eine Peinlichkeit oder eine Unwesentlichkeit nicht faktisch wäre, hätte niemand in der Tradition die Motivation, sie zu erfinden oder zu überliefern.

Drittens, etwas, was in der Tradition verboten, untersagt, oder umstritten ist, ist ebenfalls wahrscheinlich historisch, das “Prinzip der Untersagung”. Der leitende Gedanke dabei ist, dass es nicht nötig wäre, etwas zu untersagen oder zu kritisieren, wenn niemand dies täte oder dächte.

Zum Prinzip der Verlegenheit können wir als Beispiel die Tatsache nennen, dass die leibliche Mutter des Buddhas laut allen Zweigen der Tradition sieben Tage nach der Geburt ihres Sohnes plötzlich starb. Auch a priori betrachtet stellt dieses Geschehnis den Buddha in keinem guten Licht dar. Es liegt nahe, dass in vormodernen Zeiten Komplikationen der Geburt die Ursache sein könnten, wenn eine Mutter gleich nach der Geburt ihres Kindes ums Leben kommt. Aber der Buddha sollte aus Sicht mancher Zweige der Tradition ein perfektes Lebewesen sein, mehr noch, seine letzte Geburt sollte das Leid aller Lebewesen lindern bzw. zum Ende bringen, statt erneutes Leid zu verursachen. Ein Indiz dafür, dass die Tradition auch dieses Geschehnis unangemessen fand, ist die Menge von voneinander abweichenden Plädoyers, die sich in den späteren Texten finden. Es sei schon vorgezeichnet gewesen, dass die Mutter zu ihrer Zeit sterben würde, sodass die Geburt nichts damit zu tun habe; oder die Freude, Mutter eines so herrlichen Sohns zu sein, sei unerträglich gewesen, und sie sei vor Freude gestorben; oder ähnlich.

Auf die gleiche Weise ist die Tatsache, dass die Sūtren Sklaven erwähnen, beispielhaft für das Prinzip der Bedeutungslosigkeit. Die Lehrreden, in denen diese Information austaucht, brauchen sie überhaupt nicht, damit der Lehrinhalt klar oder sinnvoll ist. Sie kommt nur als ein zufälliger Bestandteil der Kulisse vor.

Für das Prinzip der Untersagung dürfen wir das Verbot des Geschlechtsverkehr in der klösterlichen Regel als Beispiel nennen. Wenn kein Mönch Sex hätte, wäre ein solches Verbot überflüssig.

Auf Grundlage dieser Prinzipien würden wir also vermuten, dass die Mutter des Buddhas tatsächlich sieben Tage nach der Geburt starb; dass die Sklaverei zur Zeit des Kanons eine gesellschaftliche Realität war; und dass einige Mönche Geschlechtsverkehr hatten. Aber auch diese Methodik reicht nicht aus, um uns zur Lehre des historischen Buddhas zu bringen. Zunächst handelt es sich nur um Faustregeln, die es uns ermöglichen, historische Umstände zutage zu bringen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir dadurch das Datum dieser Umstände feststellen können, bis auf die offensichtliche Tatsache, dass sie bis zum Entstehen der Texte stattgefunden haben müssen. Obendrein neigen diese Regeln dazu, gerade Dinge, die mit der Lehre am wenigsten verbunden sind, ans Licht zu bringen. Die Lehre, besonders die Kernlehre, ist der Tradition normalerweise gar nicht “peinlich”; unwesentlich ist sie auch nicht; und nur ein geringer Bruchteil davon besteht aus Verboten. Auch diese Methode kann uns keine großen Fortschritte anbieten.

 

Zusammenfassung

Es kann festgestellt werden, dass ein Überblick über die Frage, was der Buddha selbst gelehrt hat das Bild eines Tohuwabohu von konkurrierenden Meinungen und Methoden ergibt. Wie eingangs dargelegt, ist das aufgrund der Struktur der historischen Entwicklung und der verfügbaren Quellen nicht anders zu erwarten. Ich bin der Meinung, dass wir zwar eventuell einige Details der früheren Lehre schemenhaft ableiten können, “früh” hier aber noch nicht so früh wie Śākyamuni bedeutet. Seine eigene Lehre ist für uns fast

 

Schlussfolgerungen – Das Dilemma der Moderne

Der Soziologe Anthony Giddens argumentiert, dass ein grundlegendes Kennzeichen der modernen Gesellschaft ein Zusammentreffen von Risiko, Unwissen und Expertise sei. Tatsache ist, dass wir kollektiv immer mehr Wissen ansammeln. Die Fülle des Wissens bedingt paradoxerweise, dass wir nie dazu kommen, alle verfügbaren Kenntnisse selbst zu beherrschen. Dadurch ist uns einerseits bewusst, dass wir nicht genug wissen, um sehr persönliche Fragen z.B. zur Gesundheit, den Finanzen oder der Versicherung alleine ausreichend gut analysieren können. Andererseits sind wir deshalb ständig auf Experten angewiesen.

Ethisch betrachtet wäre es für diese Experten aber unmoralisch, bei Fragen der höchsten Werte zu Leben und Tod für jemand anderes zu entscheiden, weil wir alle fest glauben, dass jeder Mensch ein autonomes Wesen ist, das solche Dinge für sich selbst entscheiden sollte. Diese Situation bringt uns als Einzelpersonen in ein Dilemma.

Bei existenziellen Fragen, wie z.B. bei einer Tumorerkrankung sind wir auf die Beratung durch Experten angewiesen, aber letztendlich muss man für sich selbst entscheiden, z. B. sich eine empfohlene Behandlung durchzuführen oder nicht. Das bedeutet, dass wir, selbst unter Einbeziehung mehrerer Experten, systematisch nie genug wissen, um sicher zu beurteilen zu können, welchem Experten wir vertrauen und was wir deshalb tun sollten. Dies ist sozusagen ein unvermeidliche strukturelle Aporie (Unmöglichkeit, in einer bestimmten Situation die richtige Entscheidung zu treffen ) der Modernität.

 

Ich denke, dasselbe gilt auch für manche Dinge, die historisch bedingt sind, besonders wenn Fragen der höchsten Werte in ähnlicher Weise mit historischen Bedingungen verbunden sind. Die Geschichtswissenschaften, darunter auch die Philologie, sind heutzutage bekannterweise sehr hoch und technisch entwickelt, und genauso wie in Fragen der Naturwissenschaften würde ein gebildeter Laie sich nicht leicht trauen, darüber zuverlässige Schlussfolgerungen zu ziehen. Angelegenheiten der sogenannten Religion oder des Glaubens, sind jedoch für manche Menschen genauso wesentlich wie z.B. medizinische Angelegenheiten, sogar noch mehr. Wenn wir diese Dynamik nicht klar anerkennen könnten die Auswirkungen meines Erachtens sogar gefährlich sein. Im eng verwandteten politischen Bereich bereitet beispielsweise genau dieser Mangel an epistemologischer (erkenntnistheoretischer) Sicherheit den Boden, auf dem falsche Propheten wie Trump, Erdogan, Modi, oder die AfD gedeihen. Selbstverständlich kann ich keine Lösung dieses tiefgreifenden Dilemmas anbieten.

 

Am Ende ist es eine Frage des Glaubens

Dieses Dilemma taucht somit auch auf, wenn die Begriffe Glaube oder Un-Glaube in Zusammenhang mit Buddhismus angewandt werden, wie z.B. im Buchtitel Buddhismus für Ungläubige (Buddhism without Beliefs). Streng genommen scheint es mir in Anbetracht der bisher skizzierten Schwierigkeiten der philologischen Erforschung der früheren Lehre unmöglich, einen Buddhismus ohne Glauben aufzubauen oder zu betreiben, solange

  • der Buddhismus etwas bezeichnet, das auf den historischen Buddha oder seine Lehre zurückgeht und
  • wir unter “Glauben” nicht nur einen harten Fundamentalismus verstehen, sondern auch, im schwächeren Sinne, das übliche Vertrauen an Experten, das wir alle in unserer Zeit bewusst oder blind haben müssen, mögen die einschlägigen Experten Philologen wie ich sein, oder Lehrer wie Stephen Batchelor.

Zudem muss auch bedacht werden, dass wir alle, genau wie die heute von mir angeführten Wissenschaftler, notgedrungen Entscheidungen darüber treffen, was als Maßstab der Plausibilität zählt, und dies ist letzten Endes auch eine Frage des Glaubens.

In dieser Hinsicht scheint mir die Rhetorik des Unglaubens eher ein typisches Kennzeichen der Moderne zu sein; und seine Anwendung auf den frühen Buddhismus die Projektion eines Kernglaubens eines späteren Zeitalters.

 

 *Vortrag von Prof. Michael Radich, neuseeländischer Buddhologe an der Univ. Heidelberg, gehalten auf dem 3. Symposium Säkularer Buddhismus und Gemeinschaft, Heidelberg, 22.11.2019, redegiert von J. Weber

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