Dukkha – mehr als nur Leiden

Woran denkst du, wenn du das Wort „Leiden“ hörst?
Vielleicht an den Trennungsschmerz, der wie ein Stein im Bauch liegt. An den Erschöpfungszustand nach zu vielen Überstunden. Oder an Ereignisse, die so schwer sind, dass sie alles andere in den Schatten stellen.

Die meisten von uns sind – zumindest gerade – von solchen Extremen verschont. Leicht könnte man da sagen: „Mir geht’s eigentlich ganz gut. Leiden? Das hab’ ich im Moment nicht.“ Und damit auch unbemerkt das Thema beiseiteschieben, das der Buddha an den Anfang seiner Lehre stellt.

Der Haken: Das Verständnis von dukkha greift zu kurz, wenn wir nur an große Dramen denken. Der Begriff umfasst auch subtilere, alltägliche Reibungen – und genau dort beginnt oft der Weg, den der Buddha vorgeschlagen hat.

Was steckt hinter dem Begriff dukkha

Dukkha zeigt sich in vielen Nuancen. 
Ja, es meint so Offensichtliches wie Alter, Krankheit, Verlust oder Tod. Aber es meint auch jene feinen Unzufriedenheiten: wenn wir etwas nicht bekommen, das wir uns wünschen. Wenn wir mit jemandem oder etwas zu tun haben, das wir lieber meiden würden. 

Tiefe im Begriff bekommt dukkha auch dadurch, dass er die Unbeständigkeit unseres Lebens anspricht: Alles verändert sich – oft ohne unser Zutun. Und so sehr wir uns auch bemühen, wir können diese Bewegung nie vollständig kontrollieren. 

Dukkha – eine düstere Sichtweise

Es klingt zunächst schon ein wenig ernüchternd. Doch der Buddha wollte nicht, dass wir darüber den Kopf hängen lassen. Er macht klar: Diese Einsicht soll uns nicht lähmen, sondern uns zu einer bewussten Auseinandersetzung einladen. 

Nicht impulsiv reagieren. Nicht sofort ins Vermeiden, Schönreden oder Ablenken kommen. 
Sondern innehalten. Prüfen: „Was brauche ich, um in dieser Spannung klar zu bleiben – im Kopf und im Herzen?“ 
Und: „Wie kann ich selbst in schwierigen Momenten so handeln, dass es gut für mich und andere ist?“ 

Dukkha braucht Ressourcen 

Sich dem Unangenehmen zuzuwenden, ist eine Kunst. Es geht nicht um Selbstüberforderung. Auch nicht darum, jede Schwierigkeit stoisch zu ertragen. 

Wir brauchen einen prall gefüllten „Werkzeugkasten“ – Methoden, Sichtweisen, konkrete Handlungen –, um den unvermeidlichen „Autsch“-Momenten zu begegnen. Fehlen diese, rutschen wir schnell in unsere Standard-Strategien: kompensieren, beschönigen, ignorieren, ablenken. 

Die gesamte Lehre des Buddha – die Vier Edlen Wahrheiten, der Achtfache Pfad – ist im Kern so ein Baukasten: 
mit Werkzeugen für Mitgefühl und Fürsorge, für mehr Stabilität, für Perspektiven, die unsere problemgesättigten Geschichten durchschauen lassen, und für einen Umgang mit dem Leben, der weniger reaktiv ist. 

Psychologischer Blick und alltagsnahe Ethik 

Aus heutiger psychologischer Sicht klingt das verblüffend vertraut: Erst wenn wir ein unangenehmes Erleben anerkennen, ohne ihm sofort auszuweichen, entsteht Spielraum. Vorher reagieren wir oft nur – gesteuert von alten Mustern. 

Das hat auch eine ethische Seite: Wer das eigene dukkha kennt, sieht das Leiden anderer leichter – und kann menschlicher, sanfter antworten. Mitgefühl wird dann nicht zur Pflichtübung, sondern zu einer fast spontanen Haltung

Dukkha im Alltag – hinschauen statt fliehen 

Im wirklichen Leben ist dukkha selten spektakulär. Es ist das durcheinandergebrachte Wohnzimmer, der Kollege, der wieder einmal zu spät liefert, die eigene Ungeduld, die in der Supermarktschlange hochkocht. 

Zu wissen, dass solche Reibung normal ist – und nichts mit persönlichem Versagen zu tun hat –, kann befreiend wirken. 
Der Buddha schlägt vor: nicht reflexhaft verdrängen, sondern wahrnehmen, neugierig bleiben, freundlich bleiben. 

Das heißt nicht, fatalistisch alles hinzunehmen. Manchmal braucht es klare Schritte. Aber wenn wir zuerst einen kleinen inneren Abstand schaffen, entsteht Platz für überlegte, konstruktive Antworten. 

Mini-Übung: „Das Autsch wahrnehmen“ 

Sei dir bei der folgenden Übung bewusst, dass du sie jederzeit abbrechen kannst, wenn sie dir zu viel oder zu intensiv erscheint. In diesem Fall kann es hilfreich sein, eine*n erfahrene*n LehrerIn oder eine*n TherapeutIn um Unterstützung zu bitten. 

Nimm dir einen Moment Zeit und spür dich in Körper und Atmung ein.  

Nimm die körperlichen Empfindungen wahr, die gerade unangenehm sind. Vielleicht bist du unruhig, verspannt, müde oder angeschlagen.  

Nimm wahr, dass es herausfordernd ist, mit diesen unangenehmen Erfahrungen in Kontakt zu bleiben. Vielleicht hilft es beruhigend die Hand auf ein Körperteil zu legen und in eine Haltung des Mitgefühls zu kommen, die anerkennt, dass dieses Erleben eine (kleine) Herausforderung darstellt.  

Weite den Blick auf deine Alltagssituation aus – welche Situationen machen dir gerade das Leben schwer? Sind es die eigenen Emotionen, eine Unzufriedenheit, oder eine Stimmung? Sind es Dynamiken mit anderen Menschen oder wie du die Welt als solche empfindest?  

Kannst du auch hier dieses anerkennende Mitgefühl praktizieren, ohne auf die Geschichten und Impulse reagieren zu müssen, die im Geiste vielleicht entstehen? 

Reflexionsfragen 

  • Was passiert, wenn du ein unangenehmes Gefühl bewusst zulässt, anstatt es zu bekämpfen, in Ordnung zu bringen oder dich davon abzulenken?  
  • Welche Ressourcen, Fähigkeiten oder welche Sicherheit bräuchtest du, damit dir dies gelingen könnte? 
  • Was braucht es, damit Mitgefühl, ein freundliches Anerkennen, dass das gerade nicht leicht ist, für dich wirksam werden kann? 

Zum Mitnehmen 

Dukkha zu verstehen, ist keine einmalige Erkenntnis, sondern eine Praxis
Und sie ist behutsam. Sie lädt dazu ein, weniger zu fliehen – und sich mehr zuzuwenden. Stück für Stück wächst damit Resilienz, Klarheit und ein bewussterer Umgang mit den Reibungen des Lebens. 

Es ist kein Weg in Schwermut, sondern eine Einladung, das Leben genau so zu sehen, wie es ist – und dadurch freier darin zu sein. 

Weitere Beiträge