Definition

Anatta (Nicht-Selbst) ist ein Konzept des Buddhismus, das besagt, dass es kein unveränderliches oder unabhängiges Selbst gibt. Diese Aussage steht im Kontrast zur Vorstellung eines unveränderlichen, ewigen und unzerstörbaren Selbst (Atman), ein Konzept, das in der indischen Philosophie zu Zeiten des Buddhas gängig war, oder auch im Kontrast zum christlichen Konzept der Seele.

Übersetzung und Wortherkunft

  • Pali: Anatta
  • Sanskrit: Anatmam
  • Übersetzung: Nicht-Selbst,
  • Etymologie: Der Begriff setzt sich aus an- (nicht) und atta (Selbst, Seele) zusammen und bedeutet wörtlich “Nicht Selbst”.
  • Synonyme: Leere des Selbst, Nicht-Seele

Beschreibung und Bedeutung

Anatta ist eine der tiefgründigsten und herausforderndsten Lehren des Buddhismus. Sie besagt, dass alle Phänomene, einschließlich dessen, was wir als Identität oder “Ich, mich und mein” wahrnehmen, bedingt und veränderlich sind, da sie abhängig sind von veränderlichen inneren und äußeren Faktoren. Der menschliche Geist neigt dazu, eine Wahrnehmung von Selbst zu schaffen, das sich in Bezug zum Erleben setzt (Subjekt – Objekt Verhältnis)., Zum Beispiel, wenn wir die Annahme treffen, “so bin ich” oder “das ist meins” oder “ich bin Teil von” oder “ich bin getrennt von” etwas. Diese Dynamik der Selbstreferenz entsteht im Zusammenspiel mit den fünf Erlebensaspekten, den Khandas von Form, hedonistischer Färbung (Vedana), Wahrnehmung, Mustern und Impulsen (Sankharas) sowie Bewusstsein.

Anatta findet auch als eines der drei sogenannten Erlebensmerkmale (Tilakkhana), neben Anicca (Veränderlichkeit) und Dukkha (Unzufriedenstellendheit). Wie die anderen beiden, so ist auch Anatta eine Perspektive, die dabei helfen kann Reaktivität (Tanha) zu reduzieren und dadurch Leid, Stress und Druck (Dukkha) zu verringern.

Anatta im Säkularen Buddhismus

Im Säkularen Buddhismus wird Anatta als eine Perspektive auf die Natur des Selbst betrachtet. Moderne Neurowissenschaften unterstützen die Idee, dass unser „Ich-Gefühl“ eine Konstruktion ist, die aus wechselnden mentalen Prozessen besteht. Diese Erkenntnis kann helfen, ein flexibleres und mitfühlenderes Selbst- und Fremdverständnis zu entwickeln.

Anatta in Theravada und Mahayana

Im Theravada-Buddhismus ist Anatta eine fundamentale Erkenntnis, die in der Vipassana-Meditation entsteht. Sie gibt direkte Einsicht in die Nicht-Existenz eines soliden Selbst und dies wiederum führt zu einer Verringerung oder gar Überwindung von Leiden.

Im Mahayana-Buddhismus steht Anatta im Zusammenhang mit der Lehre von Sunnata (Leerheit). Hier wird nicht nur das persönliche Selbst als Illusion betrachtet, sondern auch alle weiteren Phänomene bzw. Erlebnisse.

Bezug zu westlichen Konzepten

Die Lehre von Anatta weist Parallelen zu modernen psychologischen und philosophischen Theorien auf, insbesondere zu Konstruktionen des Selbst in der Kognitionswissenschaft und der Existenzphilosophie. Sie ähnelt auch postmodernen Konzepten der Identitätsdekonstruktion.

Bezug zur täglichen Praxis und ethischem Leben

Die Perspektive von Anatta kann dabei helfen, den Druck, die Unruhe und die Enge, die um eine Wahrnehmung von “Ich, mich und mein” entsteht, zu erkennen und zu reduzieren. Wir können im Alltag dank der Achtsamkeit wahrnehmen, wann uns etwas persönlich trifft, wann unsere Konzepte von Selbstwert oder Selbstsicherheit angegriffen werden und wie wir darauf reagieren. Ebenso können wir wahrnehmen, wie wir immer wieder versuchen, bestimmte Identitäten aufzubauen und andere abzulegen oder aber auch versuchen das Bild, das sich andere von uns machen, zu beeinflussen.

Kurze Praxis: Erforschung des Selbstbildes

  • Nimm dir einen Tag Zeit für die Erkundung deines Selbstbildes. Nutze dafür deine Erlebnisse im Alltag.
  • Halte immer wieder einmal inne und frage dich: Wer bin ich gerade? Was macht mich gerade aus? Wie würde ich mich gerade beschreiben und welche Charakteristiken dabei hervorheben? Was ist für mich gerade bedeutungsvoll? Wovon grenze ich mich ab? Welche Rolle und Identität habe ich gerade inne?
  • Dann beobachte, wie sich diese Beschreibung deiner Persona bei den nächsten Malen, an denen du dir diese Fragen stellst, verändert.
  • Reflektiere den Tag am Abend und betrachte, wie sich die verschiedenen Faktoren über den Tag hinweg verändert haben. Welche Rückschlüsse und Einsichten kannst du aus dieser Praxis ziehen?

Suttas zum Thema Anatta

  • Anattalakkhana Sutta (SN 22.59)
    Der Buddha erklärt die Natur des Nicht-Selbst anhand der fünf Kandhas.

  • Alagaddupama Sutta (MN 22)
    Der Buddha widerlegt falsche Ansichten über das Selbst und betont die Notwendigkeit, Reaktivität (Tanha) zu überwinden.

Weitere Quellen

  • Analayo: Compassion and Emptiness in Early Buddhist Meditation. Windhorse Publications, 2015, ISBN: 978-1909314559
  • Rob Burbea: Seeing That Frees: Meditations on Emptiness and Dependent Arising. Hermes Amara Publications, 2014, ASIN: B016L9XRN0
  • Guy Armstrong: Emptiness: A Practical Guide for Meditators. Wisdom Publications, 2018, ISBN: ‎ 978-1614295266

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