Definition
Tathāgatagarbha (oft übersetzt als Buddha‑Natur) bezeichnet in der Mahāyāna‑Tradition das in allen fühlenden Wesen vorhandene Potenzial zu Erwachen, das jedoch durch Verblendungen verdeckt ist und durch Praxis freigelegt werden kann. In säkular‑buddhistischer Sicht ist dies keine metaphysische Essenz, sondern eine wirksame Metapher für entwickelbare Ressourcen: geistige Plastizität, Lern‑ und Beziehungsfähigkeit, die unter förderlichen Bedingungen zu Klarheit, Fürsorge und verantwortlichem Handeln heranreifen.
Übersetzung und Wortherkunft
Pali: kein genuines Pali‑Original belegt (Konzept vorrangig in Mahāyāna‑Sanskritquellen).
Sanskrit: Tathāgatagarbha.
Gängige Übersetzungen: Buddha‑Natur, Matrix/Keim/Embryo des Tathāgata, Schatzkammer des So‑Gekommenen.
Etymologie: Tathāgata (der „So‑Gekommene/So‑Gegangene“, d. h. der Buddha) + garbha (Wandlungsspielraum/Keim/Matrix/Essenz) → Bildsprache für verborgenes Potenzial, das unter Hüllen (Verblendungen) liegt.
Synonyme/nahe Begriffe: Buddha‑Natur (buddhadhātu), Sugatagarbha, Uttaratantra/Ratnagotravibhāga (systematisierende Abhandlung), Mahāparinirvāṇa‑Sūtra, Śrīmālādevī Siṃhanāda‑Sūtra.
Beschreibung und Bedeutung
Aus dharmischer Sicht adressiert Tathāgatagarbha eine pädagogische Spannung: Wie kann tiefgreifende Wandlung möglich sein, obwohl Gewohnheiten, Emotionen und soziale Bedingungen träge wirken? Die Antwort lautet metaphorisch: In jedem Wesen liegt ein verwandelbares Potenzial, das durch Übung freigelegt werden kann – nicht als fix fertige Essenz, sondern als Beziehung von Bedingungen, die Fürsorge, Klarheit und Mut hervorbringen. So verbindet die Lehre Mitgefühl (karuṇā) und Weisheit (prajñā) mit konkreter Übung: Verblendungen erkennen, heilsame Bedingungen schaffen, Handeln reparatur‑ und verantwortungsfähig gestalten. Praktisch beugt diese Lesart sowohl Resignation (Menschen „sind halt so“) als auch Perfektionismus (sofortige Reinheit) vor.
Gleichzeitig wird Tathāgatagarbha in der Tradition unterschiedlich gedeutet. Manche Texte sprechen von Qualitäten wie Reinheit, Glück, Beständigkeit und Selbst; säkular und madhyamaka‑nah werden diese Beschreibungen jedoch als Fingerzeige gelesen: Sie zeigen auf Erfahrungsqualitäten einer entlasteten, nicht‑verhafteten Geisteshaltung, nicht auf eine ewige Substanz. Entscheidend bleibt die Kompatibilität mit Nicht‑Selbst (anātman) und Leerheit (śūnyatā): „Buddha‑Natur“ ist leer an Eigenwesen und zeigt relational darauf, dass Veränderung möglich ist, weil nichts isoliert besteht. Daraus folgt eine Ethik der Bedingungen: Wer an Rahmen, Beziehungen und Gewohnheiten arbeitet, hebt die Verschleierungen und stärkt Gemeinwohl.
Säkularer Buddhismus
Tathāgatagarbha wird als hilfreiche Metapher für Potenzial, Lern‑ und Beziehungsfähigkeit verstanden. Sie motiviert, an Bedingungen zu arbeiten: Achtsamkeit, emotionskluge Sammlung, ethische Standards, faire Strukturen, Restorative‑Praxis und ökologische Verantwortung. Anstatt eine innere Essenz zu postulieren, priorisiert diese Sicht empirisch prüfbare Entwicklung: weniger Reaktivität, mehr Kooperationsfähigkeit, verlässlichere Fürsorge. Sprache wie „Natur“ wird bewusst ent‑mystifiziert: Sie dient der Ermutigung und Praxisorientierung, nicht der Ontologisierung.
Theravāda und Mahāyāna
Im Theravāda spielt Tathāgatagarbha keine zentrale Rolle; Fokus liegt auf Leerheit/Nicht‑Selbst und bedingtem Entstehen. Mahāyāna‑Texte entwickeln die Lehre breit: vom Tathāgatagarbha‑Sūtra über die Löwenbrüllen‑Sūtra der Königin Śrīmālā bis zum Mahāparinirvāṇa‑Sūtra; in Ostasien (Chan/Zen) und im tibetischen Buddhismus wird sie unterschiedlich gelesen – von strikt leerheits‑kompatibel (Buddha‑Natur = Leerheit/potenzielle Offenheit) bis „positiv“ (betonte Klarheit/Leuchtkraft des Geistes), stets mit dem Ziel, Mitgefühl und Übungskraft zu stärken.
Bezug zu westlichen Konzepten
Eine säkulare Lesart korrespondiert mit Aristoteles’ „dynamis“ (Entwicklungspotenzial) und Tugendethik (Dispositionen werden durch Übung geformt), mit humanistischer Psychologie (Selbst‑Aktualisierung unter günstigen Bedingungen) sowie mit entwicklungs‑ und neuropsychologischer Plastizität. Systemtheorie und Ökologie betonen, dass Wandel aus veränderten Beziehungen entsteht, nicht aus einem isolierten Kern. Kognitionswissenschaftlich passen Prozesse wie Re‑Konditionierung und metakognitive Regulation. Wichtig ist die Anti‑Essentialismus‑Korrektur: „Potenzial“ ist Beziehungssprache, kein Ding. So wird Tathāgatagarbha zu einer handlungsleitenden Hoffnung: Wandel ist möglich, wenn Bedingungen klug gestaltet werden.
Bezug zur Alltagspraxis und ethischem Leben
Alltagsnah bedeutet Tathāgatagarbha: Ressourcen sehen und nähren – bei sich selbst, bei anderen, in Teams. Statt Defizite zu fixieren, werden Bedingungen verbessert: sichere Räume, klare Grenzen ohne Härte, faire Rollen, Feedback‑ und Reparaturkultur, ökologische Sorgfalt. Kommunikation würdigt Anstrengung und Lernschritte; Führung dient dem Ermöglichen. Meditativ wird „Leuchtkraft“ des Geistes als trainierbare Klarheit geübt, nicht als Status. Messbar wird das durch sinkende Reaktivität, verlässliche Fürsorge und wachsende Kooperation – in Familie, Organisation und Zivilgesellschaft.
Suttas
- Tathāgatagarbha‑Sūtra – SuttaCentral (Direktlink auf Anfrage)
Kurzer Grundlagentext, der mit Gleichnissen zeigt, wie Buddha‑Qualitäten durch Verblendungen verdeckt sind und durch Übung freigelegt werden. - Śrīmālādevī Siṃhanāda‑Sūtra – SuttaCentral (Direktlink auf Anfrage)
Hervorhebung der „einen Wahrheit“ und der Buddha‑Natur als ermutigende Lehre, enggeführt mit Mitgefühl und entschlossener Praxis. - Mahāparinirvāṇa‑Sūtra (Mahāyāna) – SuttaCentral (Direktlink auf Anfrage)
Betont Buddha‑Natur in Verbindung mit Leerheit und spricht metaphorisch von Reinheit, Beständigkeit, Glück und „Selbst“ im nicht‑essentialistischen Sinn.
Hinweis: Exakte Direktlinks können gern nachgereicht werden; derzeit besteht kein Zugriff auf die benötigten Verzeichnisse.
Weitere Quellen
- Michael Zimmermann: A Buddha Within: The Tathāgatagarbhasūtra. IRIAB/Soka University, 2002.
- Sallie B. King: Buddha Nature. SUNY Press, 1991. ISBN 978‑0‑7914‑0613‑0.
- S. K. Hookham: The Buddha Within. SUNY Press, 1991. ISBN 978‑0‑7914‑0358‑0.
- David Seyfort Ruegg: Buddha‑nature, Mind and the Problem of Gradualism. SOAS, 1989. ISBN 978‑0‑7286‑0156‑3.
- Karl Brunnhölzl: When the Clouds Part (Uttaratantra). Snow Lion, 2014. ISBN 978‑1‑55939‑407‑9.
- Klaus‑Dieter Mathes: A Direct Path to the Buddha Within. Wisdom, 2013. ISBN 978‑1‑61429‑061‑4.
- Paul Williams: Mahāyāna Buddhism. Routledge, 2009. ISBN 978‑0‑415‑46397‑0.
- Jay L. Garfield: The Fundamental Wisdom of the Middle Way. OUP, 1995. ISBN 978‑0‑19‑509336‑9.
- Peter Harvey: An Introduction to Buddhism (2nd ed.). CUP, 2012. ISBN 978‑0‑521‑67694‑4.
- John Makransky: Buddhahood Embodied. SUNY Press, 1997. ISBN 978‑0‑7914‑3356‑3.
Links zu Enzyklopädien
Britannica (en): Buddha‑nature – https://www.britannica.com/topic/Buddha-nature
Wikipedia (de): Buddha‑Natur – https://de.wikipedia.org/wiki/Buddha-Natur
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