Ethik im Buddhismus

Von Sylvia Wetzel

SYLVIA WETZEL studierte Politikwissenschaft in Heidelberg und engagierte sich früh in der Frauenbewegung. Nach buddhistischen Studien unterschiedlicher Richtungen war sie Wegbereiterin eines feministischen Ansatzes bei der Interpretation der buddhistischen Lehre. Für viele Frauen und Männer war sie Wegbereiterin für die kreative Auseinandersetzung mit dem Buddhismus. Seit 1984 ist Sie im Beirat und als Sprecherin der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) aktiv. Sie ist bekannt durch zahlreiche Publikationen, Meditationskurse und Vorträge in Deutschland und Spanien.

 (IWH)Im Buddhismus geht es nicht um eine letztendliche Begründung von Ethik, also um die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, sondern darum, ob wir es uns und anderen zutrauen, unheilsame Einstellungen und Verhaltensweisen zu erkennen und abzubauen und heilsame Fähigkeiten zu entwickeln und ethisch zu handeln. Für unser Zusammenleben auf allen Ebenen – privat und politisch, in Beruf und Gesellschaft – ist der wertschätzende Austausch und die achtsame Rede und der gegenseitige Respekt von zentraler Bedeutung. Das wird möglich auf der Grundlage einer praktischen Ethik, mit der wir uns bemühen, nach Möglichkeit niemanden zu verletzen. Je mehr wir uns mit dieser Sicht vertraut machen und uns von ihr leiten lassen, desto mehr kann sie unser Verhalten im Denken, Reden und Tun, in Gedanken, Worten und Werken heilsam beeinflussen. Im europäischen Kontext versteht man unter dem Begriff Ethik, gr. ethos, die Theorie des rechten Handelns und unter Moral die konkreten Verhaltensempfehlungen, lat. mores. Da man seit den 1970er Jahren den Begriff Moral fast nur noch auf sexuelles Verhalten bezieht, wird der Begriff Ethik inzwischen für beide Bereiche verwendet. Das „Handbüchlein der Moral“ von Epiktet aus dem 1.Jhd. trägt inzwischen auch bei Reclam den Titel „Handbüchlein der Ethik“. Aus diesem Grund orientiere ich mich an diesem philosophisch nicht ganz korrekten üblichen Sprachgebrauch.

 

Die Vier Edlen Aufgaben und der Achtfache Pfad

Der Buddha lehrte den Weg des ethischen Verhaltens im Kontext der sogenannten Vier Edlen Wahrheiten, vom Leiden, seinen Ursachen, seinem Ende und dem Weg dahin. Das sind keine irgendwo auffindbaren wahren und richtigen Aussagen, sondern vier Aufgaben: 1. Es gibt natürliches und zusätzliches Leiden und das müssen wir spüren und verstehen. 2. Seine Ursachen sind Gier, Hass und Verblendung in Form reaktiven Verhaltens. Das müssen wir bemerken, verstehen und loslassen. 3. Das Ende des Leidens im Sinne des Buddha erreichen wir jedes Mal, wenn wir nicht emotional und aufgewühlt reagieren. Dann erleben wir einen Moment der Freiheit. D.h. nicht, dass wir immer nur angenehme Gefühle erleben, aber wir verringern das zusätzliche Leiden durch Einsicht, Übung und heilsames Verhalten und nehmen das natürliche Leiden des Lebens an und bemühen uns, klug damit umzugehen. 4. Das lernen wir mit Hilfe der Übungen des achtfachen Pfades, durch die wir uns mit einer angemessenen Weise der Sicht, des Verhaltens und des Übens vertraut machen.

Als Sinn und Zweck eines guten menschlichen Lebens und der buddhistischen Übung gilt das Bemühen, sich und andere nicht zu verletzen. Damit ist ethisches Verhalten der höchste Wert, und Sicht und Übung bzw. Meditation sind lediglich Mittel auf dem Weg dahin. Wir müssen also immer wieder selbst schauen, welche Sicht und welche Übung zu einem heilsameren Verhalten inspirieren.

Die acht Praxisfelder werden traditionell in drei Gruppen zusammengefasst: Sicht, Verhalten und Meditation, Skrt. prajna, sila, samadhi. Zur Sicht im weiteren Sinn gehören unser Blick auf die Welt, unsere Weltanschauung, und die damit einhergehende emotionalen Einstellungen; zum Verhalten gehören Reden, Verhalten und Lebenserwerb und zur Meditation Bemühen, Achtsamkeit und Sammlung. In welcher Reihenfolge wir uns mit den Übungen dieser drei Gruppen befassen, ist unterschiedlich, je nachdem, in welchem Kontext sie gelehrt werden. Sie werden nicht als Stufenleiter verstanden sondern als Speichen eines Rades. Dieses Bild weist uns darauf hin, dass alle acht Praxisfelder gleich wichtig sind und wir sie alle brauchen. Im Allgemeinen beginnt man mit ethischem Verhalten, das uns auf Meditation und Einsicht vorbereitet. D.h. zunächst sollen wir mit Hilfe ethischer Regeln genauer bemerken, wie und was wir denken, sagen und tun. Ethisches Verhalten beruhigt Körper, Rede und Geist und dann fällt uns die Meditation leichter, und das fördert die Einsicht. Wir entdecken und erkennen in Alltag und Meditation, in Bewegung und Ruhe, immer tiefere Schichten von unheilsamem und heilsamem Verhalten. Sind wir bereits gründlich vertraut mit ethischem Verhalten und Meditationsübungen, wird die Reihenfolge Sicht, Meditation, Verhalten empfohlen. D.h. wir können genauer hinschauen und uns mit differenzierteren Sichtweisen beschäftigen, uns in der Meditation damit vertraut machen und dann aus einem tieferen Verständnis heraus heilsam handeln. Ich übe seit über vierzig Jahren mit beiden Ansätzen und stelle immer wieder fest, dass mich in schwierigen Zeiten vor allem die Orientierung an den ethischen Regeln stabilisiert, und in ruhigeren Phasen meines Lebens habe ich mehr emotionalen und geistigen Raum, mich auf die Sicht der existentiellen und essentiellen Verbundenheit einzulassen und sie als Orientierung im Handeln zu nehmen.

 

Drei Arten von Ethik

Ausgehend von unserer Motivation, von Absicht bzw. Einstellung wird unterschieden zwischen drei Arten von Ethik: einem ethischen Verhalten aus weltlichen Motiven, der Ethik der Befreiung und der Ethik des vollständigen Erwachens zum Wohle aller. In seinen Vorträgen in Hamburg 2014 nannte der Dalai Lama die erste Stufe der Ethik säkulare Ethik. Er betont seit 1977, seit ich ihn kenne, das Gemeinsame unterschiedlicher religiöser und humanistischer Ethiken und spricht seit einigen Jahren explizit von säkularer Ethik. Damit macht er die buddhistische Ethik anschlussfähig an die europäische Diskussion über eine säkulare Ethik seit der griechischen und europäischen Aufklärung. Mich fasziniert an den buddhistischen ethischen Regeln vor allem ihre schlichte Formulierung, ihre gute Begründung, ihre Praktikabilität und die Offenheit für unterschiedliche Interpretationen. Als ich meinen wichtigsten tibetischen Lehrer, Lama Thuben Yeshe (1935-1984) 1977 kennenlernte, war ich sehr erfreut, dass er von Anfang an betonte, dass er uns zwar sein buddhistisches Wissen lehren könne, wir aber selbst heraus finden müssten, was davon im modernen Westen funktioniert. Ich war 1977 Ende Zwanzig, als ich dem Buddhismus im indischen Dharamsala begegnete. Ich hatte damals schon drei Ideologien hinter mir gelassen – Katholizismus, linke Bewegung und Frauenbewegung – und war definitiv nicht auf der Suche nach einer neuen Ideologie, die mich von allen Zweifeln erlösen sollte. Ich suchte Methoden, wie ich die schönen Ideale, die gute Menschen zu allen Zeiten – religiös oder philosophisch, humanistisch oder psychologisch – formuliert hatten und die ich anziehend fand, integrieren und in heilsames Verhalten umsetzen könnte. Und genau das schenkte mir der Buddhismus mit seinen ethischen Lebensregeln und differenzierten Meditationsmethoden. Ich schätze die Vier Edlen Aufgaben und den Achtfachen Pfad als klare und einfach formulierte Orientierung auf diesem Weg der Selbsterkenntnis hin zu einem ethischen Leben, zu meinem Wohl und dem möglichst vieler anderer Wesen.

 

Säkulare Ethik

 

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Goldene Regel

 

Für die vom Dalai Lama so genannte säkulare Ethik braucht man keine religiösen Hintergrund. Ihre Grundlage ist die Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, und das lernt man im Zusammenleben mit anderen Menschen. Sie wurde im ersten Jahrtausend vor Christi in mindestens vier Kulturkreisen entdeckt, in einer Umbruchzeit, im Übergang vom Leben in kleinen Stammesverbänden zu einem Leben in größeren multi-ethnischen Verbänden. Karl Jaspers nannte diese Zeit Achsenzeit, da in ihr universelle Einstellungen entdeckt wurden, die die Menschen nie mehr vergessen haben und die wir heute vielleicht in größerem Maße leben können. In China sprach Konfuzius von universeller Menschenliebe, Chin. jin ai. In Indien lehrten Buddha und die Upanishaden universelle Liebe und universelles Mitgefühl. Sokrates betonte, es sei besser Leid zu erdulden als Leid zuzufügen und Sophokles drückte in seinem Drama „Die Perser“, vier Jahre (!) nach den Perserkriegen sein Mitgefühl mit dem Leiden des ehemaligen Gegners aus. Und die Propheten im babylonischen Exil und Jesus Christus lehrten Mitgefühl und Liebe für die Fremden. (Jaspers, Armstrong, Bauschke)

Die Goldene Regel enthält keine Liste von Geboten und Verboten, sondern fordert uns auf, uns in andere einzufühlen, und das ist nur möglich, wenn wir uns selbst einigermaßen kennen und spüren. Ein Leben nach der Goldenen Regel fordert uns heraus und unterstützt uns dabei, uns darüber bewusst zu werden, was wir denken, sagen und tun. Sie ergänzt die vertrauten Gebote und Verbote auf zweierlei Weise. Zum einen sollen wir uns nicht nur den eigenen Leuten gegenüber ethisch verhalten, sondern auch den Fremden. Und zum anderen fordert sie uns auf, unsere Absichten, unser Verhalten und seine Folgen für uns und andere genau zu beobachten. Sie fördert also eine universelle Sicht, Selbsterkenntnis und Einfühlung. Mit dieser Haltung unterstützt die Orientierung an Regeln den Emanzipationsprozess von kollektiven Stammesregeln, bloßem Gehorsam und ihrer Einhaltung aus Angst vor Sanktionen. Genau das habe ich im Sommer 1977 erlebt, als ich anfing, mich an den buddhistischen Silas zu orientieren. Seither bemühe ich mich unheilsames Verhalten zu vermeiden: töten, stehlen, lügen, durch sexuelles Verhalten verletzen und meinen Geist mit Drogen und Alkohol verwirren. Stattdessen bemühe ich mich um ein entsprechendes heilsames Verhalten: Leben achten, einfach und großzügig sein, Beziehungen respektieren und meinen Geist durch Meditation klären. Am Ende des Essays gebe ich einen Überblick über die wichtigsten buddhistischen Silas, die mich seit über vierzig Jahren inspirieren.

Der Begriff säkular wird auch in buddhistischen Kreisen im Westen unterschiedlich interpretiert. Traditionell wird darunter der Bezug zu unserer Zeit, zu unserem Zeitalter, lat. saeculum, verstanden. Ich unterscheide zwei konstruktive und zwei reduktionistische Ansätze. Ich halte es für sehr sinnvoll und angemessen, die allgemein zugänglichen buddhistischen Übungen für ein breites Publikum aufzubereiten und die Grundthesen des Buddhismus in eine säkulare Sprache kulturell zu übersetzen. Das ist auch mein Anliegen in Vorträgen über Buddhismus und in Meditations- Seminaren. Ich halte es für unangemessen, den Buddhismus auf rein pragmatische Lehren und Übungen zu reduzieren und alle religiösen Aspekte, die im Laufe der Jahrhunderte und in unterschiedlichen Kulturen entstanden sind, als nicht wirklich buddhistisch abzulehnen. Ich schätze den Austausch mit buddhistischen Kolleginnen und Kollegen sehr, denn keine einzelne Person kann den Reichtum des Buddhismus voll erfassen. Schon der Buddha sagte sinngemäß: Solange die Sangha sich trifft und sich austauscht über die Lehren und Übungen, wird das Dharma lebendig bleiben.

Aus weltlichen Motiven zu handeln, ist menschlich und angemessen, und daher können wir die Befriedigung kurz- und langfristiger Bedürfnisse auch mit Hilfe buddhistischer Übungen anstreben. Das nennt der Buddhismus den Weg der Menschen und Götter. Solange wir mit unserem Verhalten niemanden verletzen und keinen Schaden anrichten, sondern ethisch heilsam handeln, also säkulare Ethik üben, ist das in Ordnung. Allerdings werden wir auf diesem Weg niemals völligen Herzens- frieden erleben, da alles Leben von den drei Daseinsmerkmalen gekennzeichnet ist, von Leiden, Unbeständigkeit und Unkontrollierbarkeit, Pali dukkha, anicca antatta. Es wird immer natürliches Leiden geben, da alle Erfahrungen unbeständig sind und das Leben so komplex ist, dass wir es nie völlig kontrollieren können.

 

Die Ethik der Befreiung von Gier, Hass und Verblendung

 

Die Welt ist ein Spiegel und kein Fenster. Ayya Khema

Was mich berührt, hat mit mir zu tun. C.G. Jung

Wer angibt, hat´s nötig. Sprichwort

 

Sind unsere kurz- und langfristigen Bedürfnisse einigermaßen erfüllt und erkennen wir ihre Unzulänglichkeit, kann der Wunsch nach Befreiung von Gier, Hass und Verblendung in ihren 84 000 Varianten entstehen. Wir brauchen dazu eine erste Einsicht, dass die äußeren Bedingungen, Menschen und Umstände zwar häufig genug Anlass für Glück und Leid bieten, aber die tieferen Ursachen da- für in unserem Blick auf die Welt, in unseren Erwartungen und Befürchtungen und emotionalen Einstellungen liegen. Ayya Khema brachte es so auf den Punkt: Die Welt ist ein Spiegel und kein Fenster. C.G. Jung betonte: Was mich berührt, hat mit mir zu tun. Das Bild der 84 000 Verblendungen, Skrt. klesha, ist für mich ein Hinweis, dass wir uns zwar ehrlich bemühen können, unsere überzogenen Erwartungen, Befürchtungen und reaktiven Emotionen zu erkennen, dass die Befreiung von Gier, Hass und Verblendung aber kein erreichbares Ziel ist, sondern ein Horizont, der uns dazu inspirieren kann, immer genauer hinzuschauen.

Zwei Fallen lauern auf dem Weg der Ethik der Befreiung: spiritueller Putzfimmel und Arroganz. Mit wenig Selbstvertrauen und einem niedrigen Selbstwertgefühl neigen wir zu überzogenen Ansprüchen, sei es in der Form der von anderen übernommenen Über-IchAnsprüche oder selbst gewählter Ich-Ideale. Wir glauben dann, wir könnten und müssten alle Kleshas erkennen und auflösen und verfallen einem spirituellen Putzfimmel. Statt das Leben, unsere Mitmenschen und die guten Bedingungen zu schätzen, trauen wir dem durchaus immer wieder erlebten Frieden nie und sind ständig auf der Jagd nach immer feineren Verblendungen. Die größere Falle ist allerdings spirituelle Arroganz. Wir halten uns für besonders wertvoll und allen Menschen überlegen, die nicht genau so leidenschaftlich wie wir ihre Kleshas jagen oder nicht so erfolgreich darin sind. Ein Kriterium für einen echten Abbau von Verblendungen ist Bescheidenheit und Wohlwollen gegenüber anderen. Denn wer seine Kleshas erkennt und sich um ihren Abbau bemüht, weiß wie schwer das ist und wie oft wir uns über scheinbare Fortschritte täuschen. Das fördert Geduld, Humor und – Bescheidenheit. Wer angibt, hat´s nötig, weiß der Volksmund, und wie so oft, hat er recht.

 

Die Ethik des Erwachens zum Wohle aller

 

Bodhisattvas geben nichts und niemanden auf.

Es kann gut gehen.

 

Weltliche oder säkulare Ethik fördert das eigene Wohlbefinden und ein gutes Zusammen leben mit anderen. Die Ethik der Befreiung stärkt unsere Bereitschaft, den eigenen Anteil an unseren angenehmen und unangenehmen Erfahrungen genauer zu erforschen. Aber wir merken schnell, dass wir, auch wenn wir sehr viel Einfühlungsvermögen und Selbsterkenntnis, Freundlichkeit und Wohl- wollen, Geduld und Humor entwickeln, sich die Welt nicht in ein Paradies verwandelt. Wir machen weiterhin unangenehme Erfahrungen und erleben die Unbeständigkeit und Unkontrollierbarkeit des Lebens. Es wird leider auch weiterhin Menschen geben, die sich rücksichtslos und egoistisch verhalten oder Umstände und Bedingungen sehr anders einschätzen als wir. Was tun?

Der Buddha lehrte den Menschen, die die Spannung zwischen gutem Willen und schwierigen Erfahrungen aushalten können, den Weg der Bodhisattvas. Das sind Wesen, Skrt. sattva, die Erwachen, bodhi, anstreben, um ein Leben zum Wohle aller führen zu können. Zusätzlich zur säkularen Praxis der Goldenen Regel und dem Bemühen um Einsicht in und Abbau von Gier, Hass und Verblendung wollen sie viele unterschiedliche Fähigkeiten entwickeln. Die brauchen sie, damit sie mit möglichst vielen Menschen klug und angemessen umgehen können. Sie begreifen mit Leib und Seele, dass diese Welt kein Paradies wird und dass es keine andere Welt gibt, in der weise und heilige Menschen in Frieden leben können. In dem Sinne heißt es von ihnen, sie „verzichten“ auf das Erwachen oder schieben es auf, bis alle Wesen erwacht sind. Für mich bedeutet das schlicht, es geht ihnen nicht um ihr eigenes Seelenheil oder um Erwachen, nicht um die eigene Befreiung und Erleuchtung, sondern sie wollen in dieser Welt ihr Bestes tun, im Wissen, dass sie nie perfekt wird.

Eine der großen Fallen auf dem Bodhisattva-Weg für ungeduldige, frustrierte und überhebliche Menschen ist Aktivismus, der schnell zu einem Helfer-Syndrom wird und in ein Burnout führt. Wer die Welt in gute und böse Menschen einteilt, gegen das Böse kämpft und nicht auf die Weisheit in allen und allem vertraut, fühlt sich überwältigt vom Leid der Welt oder schuldig daran, übernimmt zu viel Verantwortung und fällt aus Unruhe und Schuldgefühlen in Aktivismus. Der Antrieb ist dann nicht primär Mitgefühl und Weisheit und das Vertrauen auf kluges Handeln, sondern ein forderndes buddhistisches Über-Ich, Überheblichkeit und Besserwisserei.

Bodhisattvas sind weder naive Optimisten oder Utopisten noch verzweifelte Pessimisten oder Nihilisten. Man könnte sie realistische Optimisten oder optimistische Realisten nennen. Sie vertrauen darauf, dass alle Menschen erwachen können, auch wenn es häufig nicht so aussieht. Sie können sich in andere einfühlen und hinein denken, weil sie mehr als eine Perspektive einnehmen und da- her mehrperspektivisch denken können. Sie verstehen, dass Menschen sich zwar nach Gleichheit und Zugehörigkeit sehnen, aber so verschieden sind, dass es keine einfachen Lösungen für Konflikte gibt. Sie sehen Leiden und bleiben da und geben ihr Bestes, je nachdem, was die anderen brauchen und was ihnen selbst möglich ist. Manchmal können sie Gutes tun und manchmal scheitern sie. Sie geben aber nichts und niemanden auf. Auch dieser Weg ist keine Vorschrift, kein Gebot, sondern eine Übung. Sie orientieren sich an den vier und sechzehn Bodhisattva-Gelübden, die niemand völlig einhalten kann, die wir aber alle üben können, wenn wir das mit Leib und Seele und allen unseren Kräften wollen. Sie tun das, weil sie darauf vertrauen, dass es gut gehen kann. Ihr eigener Weg und der Lauf der Welt.

 

Der Weg der Bodhisattvas: Die Vier und die Sechzehn Gelübde

 

Die vier und die sechzehn Gelübde sind Übungen und keine Vorschriften. Die vier Gelübde entsprechen den vier Aufgaben der vier Edlen Wahrheiten. Sie sind paradox formuliert und daher keine erreichbaren Ziele sondern Hinweis auf eine nie auflösbare Spannung zwischen Absicht und Möglichkeiten. Die sechzehn Gelübde fassen die dreifache Zuflucht, drei allgemeine Empfehlungen aller Buddhas, die fünf Silas für Laien und fünf spezielle Bodhisattva-Gelübde zusammen. Gelübde wollen und sollen Herz und Geist ausrichten und unsere heilsamen Absichten stärken. Sie formulieren keine erreichbaren Ziele und wir können sie daher nie vollkommen leben. Sie können aber ein Horizont sein, der uns in allen Lebenslagen Orientierung gibt. Wir können uns immer wieder ein paar Tage oder Wochen intensiver auf diese Übungen ausrichten und jeden Tag eins der vier oder sechzehn Gelübde mit in den Tag nehmen und schauen, wie das auf uns und andere wirkt.

Wenn wir die vier Gelübde als vier Aufgaben im Kontext er sogenannten vier edlen Wahrheiten interpretieren, nehmen wir zuerst das Leiden der Wesen zur Kenntnis, und das weckt den Wunsch, die alle aus dem Leiden zu befreien. Dann suchen wir nach den Ursachen des Leidens und begreifen, dass wir die eigenen Kleshas erkennen und auflösen müssen. So öffnen wir uns für die vielen Tore der Wahrheit, für die unterschiedlichsten Erfahrungen vom Ende des Leidens und gehen mit Geduld und Zuversicht denn nach oben offenen Weg des Buddha bzw. der vielen Buddhas, d.h. wir üben uns in den vielen Varianten des achtfachen Pfades, und zwar immer und immer wieder. Denn wie diese Gelübde es so kraftvoll und paradox beschreiben, alle vier Dimensionen des Weges – Leiden, Ursachen, Ende und Weg – sind unendlich komplex und letztlich unfassbar, denn es gibt unendlich viele Wesen und Leidenschaften, Erfahrungen des Erwachens und Elemente des Weges.

 

Die vier Bodhisattva-Gelübde im Zen. Shigu Seigan

Der Wesen sind unendlich viele. Ich gelobe sie alle zu retten.

Die Leidenschaften sind unerschöpflich. Ich gelobe sie alle zu überwinden.

Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele. Ich gelobe sie alle zu durchschreiten. Der Weg des Buddha ist unendlich. Ich gelobe ihn bis zum Ende zu gehen.

 

Die vier Gelübde als vier Aufgaben

  1. Der Wesen sind unendlich Ich will all ihr Leiden spüren, annehmen und verringern.
  2. Die Leidenschaften sind unerschöpflich. Sie sind die Ursachen des Ich will sie erkennen und nicht mehr reaktiv handeln, zumindest für Momente.
  3. Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele. Ich will den achtfachen Pfad gehen, um die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit verstehen zu lernen

um ihnen auf dem Weg der vier Aufgaben beistehen zu können.

  1. Der Weg der Buddhas ist unendlich. Ich will ihn Tag für Tag gehen

und das Ende des Leidens, das Ende des reaktiven Handelns immer wieder erleben.

 

Die sechzehn Bodhisattva-Gelübde im Zen. Nach Aitken Roshi. Neu formuliert von Sylvia W.

 

1-3: Zuflucht

Ich nehme Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha.

Buddha zeigt uns unsere Möglichkeiten. Dharma ist das, was trägt in schweren Zeiten.

Sangha zeigt den ganzen Weg. Die vertikale Sangha lehrt uns und mit der horizontalen Sangha üben wir und tauschen uns aus. Die Drei Juwelen stehen für drei Arten des Vertrauens: Als Zuflucht im Außen betonen sie das Vertrauen in andere. Als Zuflucht in uns sind sie das Selbstvertrauen durch die eigene Übung und Einsicht. Und als unerschütterliches Vertrauen symbolisieren sie die Einsicht in die Weisheit von allen jenseits von Worten.

 

4-6: Die Lehre der Sieben Buddhas

Tu Gutes, meide das Böse und zähme und kläre deinen Geist. Das ist die Lehre des Buddha.

Die drei Lehren entsprechen der Goldenen Regel. Wir beruhigen Herz und Geist durch das Vermeiden von unheilsamem und Üben von heilsamem Tun. Und mit Hilfe der Meditation lernen wir uns selbst spüren und werden uns unseres Verhaltens mit Körper, Rede und Geist bewusst. Das wiederum fördert die Fähigkeit zwischen heilsamem und unheilsamem Verhalten genauer zu unterscheiden.

 

7-16: Die zehn Silas

Die fünf Lebensregeln für Laien: Ich entschließe mich, nicht zu töten, sondern alles Leben zu ehren.

nicht zu nehmen, was nicht gegeben ist, sondern die Dinge anderer zu achten.

niemanden mit meiner Sexualität zu verletzen oder zu verführen, sondern Beziehungen zu achten. nicht zu lügen, sondern die Wahrheit zu sagen, bzw. nur das, von dem ich weiß, es ist wahr.

keine Rauschmittel, Alkohol oder Drogen, benutzen und nicht andere dazu zu verleiten, sondern den Geist zu klären.

 

Die fünf Bodhisattva-Silas im engeren Sinn: Ich entschließe mich, nicht von den Fehlern anderer zu sprechen, sondern verständnisvoll und liebevoll zu sein.

mich nicht selbst zu loben indem ich andere herabsetze, sondern m. e. Unzulänglichkeit zu überwinden. nicht geizig zu sein, sondern großzügig geistige und materielle Hilfe zu gewähren.

Ärger nicht auszuagieren, sondern zu bemerken & durch Meditation meinen Geist zu klären.

die drei Juwelen nicht zu missachten sondern sie zu ehren und immer wieder Zuflucht zu nehmen. Die Zehn Silas von Körper, Rede und Geist

Eine traditionelle Liste nennt zehn unheilsame Handlungen von Körper, Rede und Geist, die wir vermeiden sollen und empfiehlt stattdessen die Übung von zehn heilsamen Handlungen. Man spricht auch von den zehn negativen und zehn positiven Silas, das was wir vermeiden und das, was wir üben sollen. Auch diese zehn Silas sind keine Vorschriften, Gebote und Verbote, sondern Übungen. Man kann die Silas, einzeln oder die fünf Silas für Laien oder die sechszehn Silas der Bodhisattvas in einem Ritual als Übung des Lebens auf sich nehmen. Sie wollen und sollen uns nicht klein machen und beim Scheitern auch keine Schuldgefühle wecken oder fördern. Sie können uns helfen, zu bemerken, was wir denken, sagen und tun. Sie dienen in dem Sinne der Bewusstwerdung. Wenn wir sie perfekt einhalten könnten, bräuchten wir sie nicht. Sie dienen als Krücken, solange wir nicht in allen Lebenslagen und Konflikten spontan heilsam handeln können. Wir bemühen uns, die zehn negativen Silas zu vermeiden und die zehn positiven Silas einzuüben.

1-3. drei Silas des Körpers: Wir wollen nicht töten und stehlen und keine sexuelle Gewalt ausüben, sondern Leben schützen, einfach und großzügig leben und Beziehungen achten.

5-7. vier Silas der Rede: Wir wollen nicht lügen, sondern nur das sagen, von dem wir wissen, es ist wahr.

… nicht verleumden, sondern die guten Seiten von anderen anerkennen und ansprechen.

… nicht durch Worte verletzen, sondern andere inspirieren.

… nicht dummes Zeug schwätzen, sondern sinnvoll und heilsam reden und – zuhören.

8-10. drei Silas des Geistes: Statt Habsucht und Gier üben wir Großzügigkeit und Offenheit. Statt Abwehr und Überwollen üben wir Zuneigung und Einfühlungsvermögen.

Statt Rechthaberei und Engstirnigkeit üben wir Offenheit und Flexibilität. Die vier Übungen der rechten Rede

Wir bemühen uns generell, unheilsames Handeln zu vermeiden und stattdessen Heilsames zu tun.

  1. Wir wollen nicht lügen, sondern die Wahrheit sagen, nur das, von dem wir wissen, es ist wahr.
  2. Wir wollen nicht verleumden und nicht hinter dem Rücken von anderen schlecht über sie reden, sondern lernen das Gute zu sehen und
  3. Wir wollen andere nicht durch grobe Worte verletzen, sondern sie inspirieren und fördern, statt die eigenen Negativitäten auf sie zu projizieren und damit zu verbergen und zu stärken

Wir wollen lernen die guten Qualitäten in anderen und damit auch in uns zu sehen und zu stärken.

  1. Wir wollen nicht schwätzen, sondern zuhören und sinnvoll und heilsam

Es geht nicht darum, andere mit unerbetenen Ratschlägen zu erschlagen. Auch Ratschläge sind Schläge. Wir wollen nicht Arroganz mit rechter Rede rechtfertigen.

 

Mancher liebevolle Smalltalk ist heilsamer als unerbetenes und arrogantes Dharma-Geschwätz.   Die große Chance für das Verringern von unheilsamem Verhalten und der erste Schritt auf diesem Weg ist die wunderbare Fähigkeit, das eigene Verhalten zu bemerken. Wir können uns dann jedes Mal, wenn wir es bemerken, darüber freuen statt uns zu verurteilen. Wir lernen auszuhalten, dass wir nicht perfekt sind und üben, das Heilsame zu tun. D.h. in Ihrem Fall, Sie üben, den Mund zu halten, zumindest solange, bis Sie sich soweit beruhigt haben, dass Sie besser einschätzen  können, was in der Situation hilfreich wäre.

 

Anliegen, Fragen und Antworten

 

Die Fragen werden kursiv formuliert. Bei meinen Antworten beziehe ich mich vor allem auf die Ansätze, die mich selbst seit über vierzig Jahren inspirieren und die bei mir funktionieren. Es gibt nicht den einen wahren und richtigen Buddhismus, auch wenn das manche Vertreter besonders alter oder moderner Richtungen behaupten. Es gibt nur sehr viele unterschiedliche Interpretationen der Lehren, die dem Buddha zugeschrieben werden. Jede Kultur, die die Lehren des Buddha aufnahm – Indien, China, Japan, Tibet usw. – interpretierte und interpretiert auch heute noch die Lehren etwas anders und entwickelt neue Formulierungen und Übungen, die der jeweiligen Zeit und Kultur entsprechen. Seit über hundert Jahren beschäftigen sich Menschen im Westen mit buddhistischen Lehren und Übungen, und der säkulare Buddhismus ist einer der vielen Versuche, die Essenz des Buddhismus für die westlichen Menschen kulturell zu übersetzen und zu interpretieren. Wie oben betont, gehören zum Reichtum des Buddhismus alle seine Schulen und Interpretationen, und nur im Gespräch miteinander finden wir heraus, was jeweils für uns angemessen und wirksam ist.

 

Ich bin nachtragend.

 

Der erste Schritt zum Verringern des Nachtragens, besteht darin, dass wir es bemerken. Wir sind eher nachtragend, wenn wir nicht so guter Dingen sind. Angst und Ärger, Minderwertigkeitsgefühle und mangelndes Selbstvertrauen usw. fördern den Rückfall auf alte und älteste Muster. Der Buddhismus empfiehlt daher, immer wieder dafür zu sorgen, dass wir einigermaßen ausgeglichen sind. Dazu gehört, unsere negativen Selbstbilder zu hinterfragen und aufgewühlte Emotionen beruhigen zu lernen. Statt darüber nachzudenken, wer uns alles schon verletzt hat und in Zukunft verletzen könnte, üben wir Dankbarkeit für die guten Bedingungen, die bereits da sind. Dankbarkeit und Freude sind kraftvolle Haltungen, die negative Selbstbilder lockern und aufgewühlte Emotionen beruhigen. Das Unheilsame bemerken, ohne sich zu verurteilen und das Heilsame gezielt einüben sind das Herzstück der buddhistischen Ethik.

 

Sender und Empfänger passen selten zusammen.

 

Leben ist tragisch und erhaben, alles, was kommt, muss auch wieder geh´n.

Leben geschieht, niemand hat es im Griff. Nur das Ende des Haderns bringt Frieden.

Lied zu den Drei Daseinsmerkmalen und den Vier Siegeln.

 

Tja, leider ist das Leben keine Wellness. Veranstaltung, und leider haben weder wir noch andere das Leben völlig im Griff, auch nicht unsere Vorstellungen und emotionalen Muster. Der Buddha spricht von den Drei Daseinsmerkmalen: natürliches Leiden, Unbeständigkeit und Unkontrollierbarkeit. Wenn wir sie am eigenen Leib erkennen und annehmen lernen, finden wir den Herzensfrieden, den wir brauchen, um das Beste aus unseren Erfahrungen zu machen, für uns und andere. Die Drei Daseinsmerkmale plus die Erfahrung von Frieden gelten als die Vier Siegel des Buddhismus. Wer sie übt, ist eine Schülerin des Buddha.

Wir können und sollten uns darüber freuen, wenn eine Begegnung klappt und wir uns leicht über die wesentlichen Dinge verständigen können. Da wir nicht wirklich wissen, wie Denken, Reden und Verstehen funktionieren, und uns auch selbst nicht wirklich gut kennen, grenzt es an ein wahres Wunder, dass wir einigermaßen gut kooperieren und miteinander auskommen können. Mit dem lakonischen Satz „Is so“, bringen einige moderne Jugendliche ihre Einsicht in die Drei Daseinsmerk- male auf den Punkt. Sie scheinen mit dem Auf und Ab ihres Lebens einigermaßen klar zu kommen.

Ich urteile häufig zu hart.

Mögen die Wesen nur Glück erleben, frei sein von Leid,

voller Freud, in Gleichmut ruh´n.

Lied zu den vier unermesslichen Haltungen

 

Ich beschäftige mich seit über vierzig Jahren fast full-time mit dem Buddhismus. Ich stelle fest, dass mein Blick auf die Welt und auf andere Menschen immer gnädiger wird. Durch mein eigenes Üben erkenne ich immer mehr, wie schwierig es ist, mich so zu verhalten, wie ich es gerne täte. Ich denke, sage und tue oft wider besseres Wissen und sogar wider Willen Dinge, die ich für unheilsam oder unfreundliche halte. Ich nehme das immer mehr mit Fassung zur Kenntnis und bemühe mich um ein heilsameres Verhalten. Je häufiger ich in ganz konkreten Situationen erkenne, wie schwer das ist, desto freundlicher wird mein Blick und meine Haltung anderen gegenüber. Der Buddhismus empfiehlt vier heilsame Haltungen gezielt einzuüben: Wohlwollen und Freundlichkeit und Freude und Mitfreude, wenn es gut läuft und Mitgefühl und Gleichmut oder Gelassenheit, wenn es schlecht läuft. Ich finde diese Übung sehr hilfreich und singe sie als Vers gerne.

 

Wie kann ich mich gewaltfrei wehren?

 

Mit welchem Handeln wir das Unheilsame stoppen oder verringern und das das Heilsame fördern können, hängt immer vom Kontext ab und von unserer Einsicht und Motivation. Es gibt keine Regel für alle Fälle. Die buddhistische Faustregel entspricht der Goldenen Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Und das Gebet der Gelassenheit passt auch. In säkularer Sprache: „Möge ich ändern, was zu ändern ist, annehmen, was nicht zu ändern ist, und das eine vom anderen unterscheiden lernen“. Mir hilft meist die Frage, was ich an Stelle dieser Person hilf- reich fände. Oder, wie ich mich verhalten würde, wenn ich so aufgewachsen wäre wie diese Person? Ich versuche, unheilsames Verhalten nach Möglichkeit zu stoppen, z.B. bei einem Streit am Bahnhof oder in der S-Bahn, aber nur wenn ich damit nicht mein Leben gefährde. Ich bin keine Heldin. Manchmal hilft eine paradoxe Intervention bzw. der Blick auf Fähigkeiten. Ich habe schon einige Male einen aggressiven Wortwechsel zweier junger Männer am Bahnhof bzw. am S-Bahnhof unterbrochen, indem ich nach einem bestimmte Laden gefragt oder sie um Hilfe beim Koffertragen gebeten habe. Sehr charmant und lebenstauglich finde ich eine Antwort des Dalai Lama auf diese ihm oft gestellte Frage: „Falls Sie einen Regenschirm dabei haben, denken Sie an das Wohl dieser Person und das aller Wesen und hindern Sie den Täter mit einem heftigen Schlag an seinem bösen Tun“. Ein gewaltfreies Leben ist nichts für Feiglinge und Dummköpfe. Man braucht Mut und Klugheit dazu und – die Goldene Regel.

 

Ich will lernen mit treu zu sein und mehr Mut entwickeln, schwierige Dinge anzusprechen.

 

Das ist nicht einfach, denn zur heilsamen Kommunikation und zum Streiten gehören mindestens zwei. Im Buddhismus gilt „nicht verletzen“ als höchste Ethik. Dieser Ethik, Skrt. Sila, wird  sogar das

„nicht lügen“ untergeordnet. Das hören wir nicht gerne, vor allem dann nicht, wenn es uns darum geht, uns authentisch auszudrücken. Wir sind keine Insel und brauchen die anderen Menschen wie die Luft zum Atmen, daher sollten wir unsere Beziehungen pflegen. Der Buddha empfiehlt vier Ver- haltensweisen für das heilsame Gespräch, vier negative Silas, was wir nicht tun sollten und vier positive Silas, was wir stattdessen tun sollten. Ich habe sie oben ausgeführt und fasse sie hier nur kurz zusammen: Wir wollen nicht lügen, sondern nur das sagen, von dem wir wissen, es ist wahr; nicht verleumden, sondern die guten Seiten von anderen anerkennen und ansprechen; nicht durch Worte verletzen, sondern andere inspirieren und schließlich kein dummes Zeug schwätzen, sondern sinnvoll und heilsam reden und zuhören. Auch hier hilft mir die Überlegung, was ich gerne von meinem Gegenüber hören würde. Ich mag es definitiv nicht, wenn andere mir, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, ihre aufgewühlten Emotionen authentisch vor die Füße kippen. Wenn mich jemand darum bittet, kann ich mich darauf einstellen. Die andere Person um Erlaubnis für ein offenes Gespräch zu bitten, ist der erste Schritt zu einer gewissen Distanzierung von den Erwartungen und reaktiven Emotionen. Und es öffnet den Raum, auch das Gegenüber und seiner Verletzbarkeit zu sehen und nicht die eigenen Betroffenheit.

 

Wie bleibe ich dran am Üben?

 

Nach meiner Erfahrung braucht es eine starke Motivation, eine passende Methode und Menschen, die auch einen Weg gehen. Wir brauchen sie nicht jeden Tag, aber ab und zu. Manche Menschen, die ich seit Jahren auf dem Weg der Übung begleite, sehe ich nur einmal im Jahr. Vielleicht schreiben sie mir auch mal eine Mail. Die meisten suchen sich eine lokale Gruppe, und das kann auch eine stille Sitzgruppe einer anderen Tradition sein. Dann üben wir ab und zu mit anderen zusammen, ein, zwei Mal im Monat z.B., und das stärkt unsere Motivation und Ausdauer. Und ermöglicht einen Austausch über das Auf und Ab des Übens.

 

Wie kann ich es vermeiden, unerbetene Ratschläge zu geben.

 

Auch hier ist der erste Schritt, dass Sie den Impuls bemerken. Der zweite Schritt ist oft die schlichte Frage, ob die andere Person einfach nur über ihre Erfahrungen sprechen will oder tatsächlich einen Rat möchte. Auch hier hilft mir die Überlegung, was ich gerne hören möchte, wenn ich jemand von einer schwierigen Erfahrung erzähle. Allerdings muss man auch das Vermeiden unheilsamen Verhaltens üben. Es reicht nicht, wenn wir es ein, zwei Mal bemerken und dann erwarten, dass wir das nicht mehr tun. Es empfiehlt sich allerdings auch, zuerst zu fragen, ob jemand meine Geschichte überhaupt hören will. Ein letzter Vorschlag: Der Buddha empfiehlt, das Verhalten, das wir gerne erleben wollen, selbst zu üben. Das sei mit die effektivste Art und Weise heilsames Verhalten zu fördern: Es selbst tun und nicht bloß zu denken oder anderen zu predigen.

 

Wie kann ich Floskeln vermeiden?

 

Small Talk und Höflichkeit haben derzeit eine schlechte Presse. „Authentisch“ ist für manche das neue „Wahr“. Dahinter versteckt sich leider nicht selten Rücksichtslosigkeit und mangelnde Höflichkeit. Kein Satz ist per se bloß eine Floskel. Es kommt immer auf den Kontext an und auf die Motivation. Small Talk ist das Schmiermittel für Begegnung mit Menschen, die man nicht oder nur wenig kennt. Höflichkeit und Small Talk über unverfängliche Dinge helfen uns, die andere Person kennenzulernen und herauszufinden, was angemessen sein könnte. Sie schaffen oft erst den Raum, in dem wichtige Dinge besprochen werden können. Der bekannte Freiherr Knigge schrieb seine nach ihm benanntes Buch nicht primär, um unsichere Bürger gute Tischsitten und den rechten Gebrauch von Messer und Gabel zu lehren, sondern um Kriege zu vermeiden. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich höfliches Verhalten. Es entlastet unvertraute Situationen und tut den meisten Beteiligten gut. Sich mit Menschen zu streiten, die man nicht einschätzen kann, ist vermutlich eher ego- zentrisch als ehrlich. Offene Gespräche über strittige Themen sind nur dann hilfreich, wenn es einen gemeinsamen Boden von Interessen und genügend Vertrauen zueinander gibt.

 

Ich werde schnell wütend.

 

Hinter Wut steht aus Sicht der Buddhismus meist Ohnmacht. Der Trauma-Therapeut Stephen Levi- ne hält Wut und Angst für sekundäre Emotionen (Sprache ohne Worte). Wenn wir vor einer Herausforderung stehen, versuchen wir einzuschätzen, ob wir ihr gewachsen sind oder nicht. Im ersten Fall gehen wir darauf zu, d.h. wir entscheiden uns für ein bestimmtes Vorgehen und vertreten es nachdrücklich. Manche nennen das positive Aggression, von lat. aggredi, auf etwas zugehen. Ich halte das für unangemessen, da wir den Begriff Aggression eher mit Wut verbinden. Gelingt das beherzte Vorgehen, werden wir nicht wütend, sondern freuen uns. Gelingt es nicht, fühlen wir uns ohnmächtig, und sei es nur kurz, und dann echauffieren wir uns – und werden wütend. Wut ist ein Kind der Ohnmacht, eine sekundäre Emotion. Wer sich nicht ohnmächtig fühlt, überlegt ein anderes Vorgehen, verhandelt oder gibt nach. Wer sich einer Herausforderung nicht gewachsen fühlt, versucht ihr auszuweichen oder zu fliehen. Gelingt das, hat man keine Angst, sondern freut sich darüber. Misslingt die Flucht, weil wir uns überreden oder unter Druck setzen lassen, fühlen wir uns ohnmächtig und ängstlich. Dann bleibt als letzter Ausweg: Wir stellen uns tot und schneiden unsere Gefühle ab. Alle drei sogenannte Überlebensstrategien – Angriff oder hier besser Anpacken, Flucht, Totstellen – sind in manchen Situationen angemessen, in manchen nicht. Je schlechter wir uns und die anderen einschätzen können, desto eher misslingen Anpacken und Fliehen. Dann fühlen wir uns ohnmächtig, werden wütend oder ängstlich oder schalten Gefühle ab. Das hilft bei Gefahr, ist aber keine Dauerstrategie, denn wir spüren dann auch keine angenehmen Gefühle mehr. Dann wird das Leben flach und schwierig, wir fühlen uns noch ohnmächtiger, werden wütend oder ängstlich oder dumpf und verpassen das Leben.

Manche rechtfertigen nun Ohnmacht, Angst und Wut mit moralischer Empörung über die ihnen widerfahrende Ungerechtigkeit und das Leid der anderen und der ganzen Welt. Sie behaupten, die- se Art der Empörung sei keine Wut, sondern notwendig, um sich gegen ungerechte Verhältnisse zu wehren. Wer allerdings Empörung braucht, um in die Gänge zu kommen, dem fehlt Energie, Tat- kraft und Mut und das Vertrauen auf die eigenen Selbstwirksamkeit. Mit Empörung fühlt man sich moralisch im Recht und leider oft auch selbstgerecht, und wer mag das schon. Man kann und sollte sein Bestes tun, um unheilsame Bedingungen zum Heilsamen zu verändern. Das gelingt aber nur, wenn man nicht nur gegen etwas ist, sondern mit Zuversicht und gemeinsam mit anderen neue Möglichkeiten beschreiben und sich für sie einsetzen kann.

 

Wie lange darf man trauern?

 

Trauer über einen Verlust ist sinnvoll und notwendig. Wer nicht trauert, wenn ein naher Mensch stirbt oder schwer erkrankt, dem fehlt Einfühlungsvermögen. Wie lange diese Trauer dauert, hängt von vielen Faktoren ab. Eine Faustregel sagt, dass man umso länger trauert, je länger die Beziehung gedauert hat. Da nicht mehr alle Menschen genügend Vertraute haben, die sie in ihrer Trauer begleiten, gibt es inzwischen Trauergruppen in Nachbarschaftsheimen oder in der Kirchengemeinde. In diesen Gruppen tauschen sich Menschen, die Angehörige oder die Partnerin verloren haben, aus, und in der Regel werden sie von einer Fachkraft begleitet. Im Anschluss an meinen Workshop sprach ich mit dem Arzt, der die Frage gestellt hatte. Er muss im Auftrag einer Krankenkasse eine Einschätzung geben, wie lange Trauerprozesse dauern dürfen! Er hatte sich über meine Antwort gefreut und wird keine Standardempfehlung geben.

 

Wie passen die Goldene Regel und konkrete Regeln zusammen?

 

Die Goldene Regel will uns ermuntern, unser Verhalten nicht nur an Regeln, sondern auch an unserer eigenen Erfahrung zu orientieren. Sie will vertraute Regeln nicht aushebeln oder abwerten. Meine Faustregel ist: Ich will möglichst niemanden verletzen. Wenn ich völlig durch den Wind bin oder nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, orientiere ich mich an den ethischen Regeln des Buddhismus, d.h. an den fünf Silas für Laien, an den vier Silas der rechten Rede und an den fünf speziellen Bodhisattva-Silas. Wenn ich einigermaßen ausgeglichen bin, prüfe ich die Motive meines Verhaltens. Wen will ich schützen? Mich oder andere? Verhalte ich mich ethisch, um besser da zu stehen oder um Leiden zu vermeiden? Und ich frage mich immer wieder: Welches Verhalten würde ich gut finden, wenn ich die Person mir gegenüber wäre?

 

Wie kann ich politische Verzweiflung verringern oder ganz vermeiden?

 

Auch mich erfasst bei den Nachrichten manchmal spiritueller Weltschmerz. Ich will eine bessere Welt und meine auch, sie sei möglich, wenn sich bloß auch die anderen ethisch verhielten und auf- hören würden, sinnlos zu konsumieren, die Umwelt zu schädigen, Menschen auszunutzen usw. Was mir oft hilft ist der Blick auf die Geschichte, denn ein Großteil unserer politischen Verzweiflung entsteht, weil wir bestimmte heutige Bedingungen nicht mit früher vergleichen, sondern mit einem Ideal. Konkrete Ziele kann man erreichen, wenn man sie klug wählt und weiß, wie und mit wem man sie umsetzen kann. Utopisches Denken oder Ideale können uns bestenfalls inspirieren, uns für eine bessere Welt einzusetzen. Wenn wir sie allerdings für konkret erreichbare Ziele halten, ohne zu wissen, wie und mit wem wir sie erreichen können, sind wir immer frustriert. Fangen wir an, unser derzeitiges unvollkommenes Europa mit der Zeit des Ersten oder Zweiten Weltkriegs zu vergleichen, oder mit der Zeit nach den beiden Kriegen, dann finden wir die derzeitige Lage sicher weniger schlimm. Die Zeiten waren vermutlich niemals besser, meinte schon Montaigne, vor allem nicht die früheren.

Ein kluger Journalist aus Nigeria betonte vor einiger Zeit, dass die Nigerianer vor dreißig Jahren glücklicher waren als heute. Warum? Nicht etwa, weil es ihnen damals besser ging als heute, sondern weil sie ihr Leben damals nur mit früher verglichen. Heute vergleichen sie, mit Hilfe der neuen Medien, ihr Leben mit dem Leben in New York, Paris, Berlin und London und sind frustriert, weil es ihnen nicht genau so gut geht. Der Historiker Stephen Pinker betont, dass es den meisten Menschen heute sehr viel besser geht, wenn man z.B. auf Kindersterblichkeit, Hunger, Armut, Gewalt und Bildung schaut. Es gibt auch statistisch weniger Gewalt, wenn man die Menge der Menschen, die heute leben, einbezieht. Zur oft idealisierten Zeit der Jäger und Sammler lag die Wahrscheinlichkeit, dass man eines unnatürlichen Todes starb, bei über fünf Prozent. Heute liegt sie im Promillebereich. Es gibt numerisch natürlich mehr Gewalt als früher, aber heute leben auch über sieben Milliarden Menschen auf der Welt, noch um 1900 war es nur eine Milliarde, und in der Steinzeit lebten nur ein paar Millionen auf dieser Erde.

Wir leiden an mindestens zwei kognitiven Verzerrungen. Wir vergleichen unser Leben nicht mit früher, sondern mit einem ausgedachten schönen Ideal, das noch nie verwirklicht wurde. Und wir schauen vor allem auf das, was fehlt oder noch nicht gut genug ist, nicht auf das, was besser geworden ist. Wenn wir anfangen, das Leben heute mit dem Leben vor 20 oder 30, 50, 100 oder 1000 Jahren zu vergleichen, sehen wir deutlich, dass vieles besser geworden ist. Ich wollte als Frau zu keiner anderen Zeit leben als hier und heute. Dieser Blick verringert unseren politischen Welt- schmerz und macht Mut, sich für weitere Verbesserungen einzusetzen. Und diesen Mut und diese Zuversicht brauchen wir, wenn wir etwas zum Guten verändern wollen.

 

Sylvia Wetzel 2018, überarbeitete Fassung eines Vortrags und eines Workshops mit Sylvia Wetzel  am 19.10.2018 auf dem 2.  Symposium Säkularer Buddhismus und Ethik im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg (IWH).

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