Definition

Bedingtes Entstehen (Paṭiccasamuppada) ist ein zentrales Konzept im Buddhismus, das beschreibt, wie alles was ist, in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander steht, sich gegenseitig verändert und bedingt. Das Prinzip des Bedingten Entstehens besagt, dass keine Dynamik unabhängig von anderen Dynamiken existiert. Damit gibt es auch keine Zustände, Sachen oder Personen, die unveränderlich sind. Auch diese existieren basierend auf und werden beeinflusst durch andere Dynamiken und sind dadurch selbst ein Prozess. Es gibt nichts, so dieses Prinzip, was unveränderlich oder unabhängig von anderen Dynamiken Bestand hat.

Übersetzung und Wortherkunft

  • Pali: Paṭiccasamuppada
  • Sanskrit: Pratityasamutpada
  • Übersetzung: Bedingtes Entstehen, Abhängiges Entstehen, Wechselseitiges Entstehen
  • Etymologie: Der Begriff setzt sich aus pratitya (abhängig von, basierend auf) und samutpada (Entstehung) zusammen und bedeutet wörtlich “Entstehung in Abhängigkeit”.
  • Synonyme: Gesetz der Abhängigkeit, Kausalzusammenhang, Interdependenz

Beschreibung und Bedeutung

Das Prinzip des Bedingten Entstehens beschreibt, dass es nicht gibt, das unabhängig von anderen Dynamiken oder Umständen besteht. Vielmehr ergeben sich alle Erlebnisse und Dynamiken, die Situationen, die wir erleben, die physischen und psychologische Zustände, die wir erfahren und selbst unsere eigene Identität, aus anderen Prozessen und Dynamiken. Der Buddha lehrte dieses Prinzip, um zu zeigen, dass das, was wir als Druck, Leid, Stress und Unzufriedenheit erfahren (Dukkha) auch dadurch entsteht, dass wir dieses Prinzip nicht in unsere Überlegungen und Handlungen einbeziehen. Vielmehr nehmen wir uns selbst und andere, aber auch Situationen und materielle Gegenstände, als feste, beständige und unabhängige Einheiten wahr, mit gleichbleibenden Eigenschaften. Dieses Prinzip des Bedingten Entstehens nicht klar zu sehen nannte der Buddha Blindheit (Avijja).

Im Säkularen Buddhismus wird Bedingtes Entstehen als ein nicht-metaphysisches Naturgesetz betrachtet. Es entspricht modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen über komplexe Systeme und Wechselwirkungen in Psychologie, Ökologie und Neurowissenschaften. Die Einsicht in Bedingtes Entstehen fördert eine ganzheitliche und verantwortungsbewusste Sichtweise auf das Leben.

Im Theravada-Buddhismus wird ist das Bedingte Entstehen ein grundlegendes Prinzip, das weiter aufgeschlüsselt wird in eine zwölfgliedrige Kette (Dvadasanidana), die den Prozess von Geburt, Tod und Wiedergeburt darstellt und eine Analyse bietet, wie Leiden entsteht und beendet werden kann.

Im Mahayana-Buddhismus wird Bedingtes Entstehen oft in Verbindung mit der Lehre von Sunnata (Leere) verstanden. Nagarjuna, ein zentraler Philosoph der Madhyamaka-Schule, erklärte, dass alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind, weil sie abhängig entstehen.

Bezug zu westlichen Konzepten

Das Prinzip des Bedingten Entstehens zeigt Parallelen zu Systemtheorien und holistischen Denkweisen in der westlichen Philosophie. Es ähnelt auch Erkenntnissen aus der modernen Physik und Ökologie, die Interdependenz und Vernetztheit betonen.

Bezug zur täglichen Praxis und ethischem Leben

Das Verständnis von Bedingtem Entstehen kann helfen, eigene Handlungen in einen größeren Kontext zu setzen und verschiedene Einflussfaktoren bewusster wahrzunehmen. Ebenso kann dieses Prinzip dabei helfen, die eigene Verantwortung anzuerkennen ohne in eine Haltung von Schuld oder Überforderung zu verfallen. Bedingtes Entstehen wahrzunehmen und zu reflektieren hilft dabei, zu verstehen was zu einer Situation beiträgt und wie sie sich gestalten lässt. Das Prinzip hinterfragt fixe Konzepte wie Schuld und Kontrolle, und verweist stattdessen auf eine Haltung der Teilhabe und Mitgestaltung, die sich dann entfaltet, wenn wir die Wechselwirkung verschiedener Prozesse achtsam wahrnehmen und in unseren Handlungen berücksichtigen.

Kurze Praxis: Bedingtes Entstehen bewusst wahrnehmen

  • Halte inne
  • Spüre in deinen Körper hinein, nimm die verschiedenen Empfindungen wahr, deine Stimmung und die Gedanken, die aufkommen
  • Nimm wahr, wie Körper, Herz und Geist auf die Erlebnisse der vergangenen Stunden und Tage reagieren
  • Nimm wahr, welche Impulse etwas zu sagen, denken oder tun als Reaktion auf dieses Erleben entstehen
  • Wähle dann eine Qualität wie Achtsamkeit, Ruhe, Klarheit oder Wohlwollen, die dir in deiner Situation hilfreich erscheint. Beobachte, wie diese Haltung die nächsten Handlungen, die du tätigst, beeinflusst.

Suttas zum Thema Bedingtes Entstehen

  • Paticca Samuppada Sutta (SN 12.1)
    Der Buddha erklärt das Prinzip des Bedingten Entstehens anhand der zwölf Glieder der Kausalkette.

  • Mahanidana Sutta (DN 15)
    Eine tiefgehende Analyse des Bedingten Entstehens und seiner Bedeutung für das Verstehen des Daseinskreislaufs.

  • Kaccayanagotta Sutta (SN 12.15)
    Der Buddha erklärt die Mittlere Sichtweise, die Extreme von Sein und Nicht-Sein vermeidet.

Weitere Quellen

  • Bhikkhu Bodhi: The Great Discourse on Causation: The Mahanidana Sutta and Its Commentaries. Buddhist Publication Society, 1995, ISBN: 978-9552401169
  • Thich Nhat Hanh: Intersein: Buddhistische Praxis der Achtsamkeit. Theseus Verlag, 2000, ISBN: 978-3896201421
  • Nagarjuna: Mulamadhyamakakarika: Die Grundlagen des Mittleren Weges. Norbu Verlag, 2017, ISBN: 978-3942395230