20 Missverständnisse über Meditation

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Von Martine Batchelor

MARTINE BATCHELOR, Meditationslehrerin und Autorin, war viele Jahre Nonne in der koreanischen Zen-Tradition. Zusammen mit Ihrem Mann Stephen Batchelor lehrt sie weltweit die Praxis eines säkularen Dharma, u.a. im Bodhi-College.

Martine Batchelor hat in Ihrem Vortrag die 20 Missverständnisse über Meditation zusammengefasst. Der folgende Beitrag ist eine übersetzte Mitschrift eines frei gehaltenen Vortrags auf einem mehrtägigen Meditations-Retreat.

Im Juni 2021 wir Martine Batchelor einen dreitägigen Meditations-Retreat im Odenwald leiten. Mehr Infos >

Meditation ist nichts Exotisches

Meditation sollte nicht als eine exotische Aktivität betrachtet werden, nach der Devise: Ich praktiziere Meditation, um dieses oder jenes zu lösen, und sobald ich damit die erwartete Wirkung erzielt habe, kann ich zu etwas anderem übergehen und mich vielleicht Golf oder Basketball oder etwas Interessanterem zuwenden. Ich meine, dass Meditation unser ganzes Leben einbeziehen sollte.

Wenn wir sitzen und meditieren, habe ich oft das Gefühl, dass wir zwar meditieren, gleichzeitig aber auch auf etwas warten –darauf, dass etwas ganz Besonderes geschieht! Vielleicht heben wir ja vom Kissen ab, oder wir beginnen zu leuchten wie ein Christbaum, je nachdem, welche Bilder wir im Kopf haben.

Natürlich können wir während der Meditation auch meditative Zustände erleben, in denen wir ein Gefühl großer Ruhe und Klarheit haben, oder wir machen mystische Erfahrungen. Plötzlich erkennen wir deutlich, dass uns allen kreatives Potenzial innewohnt, was manche „Buddha-Natur“ nennen würden. Für mich ist die interessanteste Wirkung der Meditation allerdings nicht so offensichtlich: der Effekt des Loslassens.

 

Meditation fügt nichts hinzu, sondern löst etwas auf

Wenn wir meditieren, haben wir oft den Eindruck: Na ja, es passiert ja nicht viel. Das liegt daran, dass wir denken, etwas müsse hinzugefügt werden. Die Meditation löst jedoch etwas auf! Und es ist ein bisschen schwieriger für uns, zu erkennen, dass etwas nicht da ist.

Vor kurzem bin ich einer Frau begegnet, die seit über zehn Jahren praktiziert. Sie kam zu mir und sagte: „Ich meditiere jetzt seit zehn Jahren, aber meine Meditation ist nicht wirklich gut, sie verbessert sich nicht.“ Sie wirkte richtig niedergeschlagen deswegen.

Ich fragte sie: „Und wie steht es mit Ihrem Leben?“ – Sie antwortete: „Oh, mein Leben ist viel besser geworden!“

Es ist interessant, dass sie die Veränderung in ihrem Leben sah, und ich glaube, dass dies der Grund war, weshalb sie diese Meditation, bei der dem Anschein nach kaum etwas „passierte“, überhaupt weiterhin praktizierte. Es fand der darunter liegende Effekt des Loslassens statt. Auf der einen Seite konnte sie bis zu einem gewissen Grad erkennen, dass ihre Meditation in der Tat eine Besserung bewirkt hatte. Sie war nicht mehr so sehr in die Dinge verstrickt und verstand sie besser als vorher. Gleichzeitig war die Meditation aber nicht so, wie sie ihrer Meinung nach hätte sein sollen. Und das ist etwas anderes.

 

Meditation ist nichts Heiliges

Ihr meditiert hier gemeinsam, und ich weiß, dass sich ungefähr 45 Personen im Raum befinden – aber eigentlich sind es neunzig: nämlich die Person, die tatsächlich meditiert, und daneben noch der vermutete phantastische „Wie er oder sie sein-soll“-Meditierende. Ihr sitzt hier und messt die Meditation daran, wie sie sein sollte. Es gibt aber kein „wie sie sein sollte“. Sie ist, wie sie ist, manchmal „besser“, manchmal weniger. Die Tatsache jedoch, dass ihr überhaupt hier sitzt, 45 Minuten lang, auch wenn ihr euch ruhelos fühlt, bedeutet, dass etwas geschieht, dass etwas ein bisschen anders ist.

Aus meiner Sicht ist das gewissermaßen die Meditation fürs Leben: die Tatsache, dass das Sitzen in der Meditation, das Gehen in der Meditation, das Kultivieren meditativen Gewahrseins im Alltag eine Wirkung haben, die wir später in unserem Leben spüren können. Auf dieser Ebene, so würde ich sagen, ist die Meditation im Grunde Nahrung für den Organismus, Nahrung für unser ganzes Sein, für unseren Geist.

Mit dem Meditieren ist es ein bisschen wie mit dem Essen: Manchmal haben wir ein raffiniertes Dinner; manchmal können wir nur eine sehr einfache Mahlzeit anbieten, aber was auch immer es ist, essen muss man, und auch eine einfache Mahlzeit stillt den Hunger und ist sättigend.

Ich persönlich würde Meditation mit dem Zähneputzen gleichsetzen. Vermutlich putzt ihr jeden Tag eure Zähne. Und wenn ihr das tun, steht ihr bestimmt nicht vor dem Spiegel und sagen: „Wow, das war aber ein tolles Zähneputzen heute!“. Ihr tut es einfach, weil es den Zähnen gut tut, weil es sich gut anfühlt. Und ihr erhofft euch auch nichts Besonderes davon, außer vermutlich saubere und frische Zähne. Können wir uns, wenn wir meditieren, dieser Erwartung manchmal bewusst sein?

 

Meditation heißt nicht loslassen um jeden Preis

Meines Erachtens ist Meditation auf dieser Ebene sehr facettenreich und birgt viele verschiedene Aspekte des Lernens, des Sich­öffnens, des Loslassens. Meditation fürs Leben ist eine lebenslange Reise. Auf dieser Ebene müssen wir uns vor dem Gedanken hüten, Meditation könne die Dinge für uns in Ordnung bringen – und ganz bestimmt gelingt dies nicht an einem Wochenende. Vielleicht hat ihr schon einmal von “Erleuchtungs-Inten­siv­kursen” gehört, bei denen man angeblich an einem Wochenende die “Erleuchtung” erlangt. So etwas mag vielleicht vorkommen, aber ich bin da nicht so sicher. Für mich ist eine lebenslange Reise. Es gibt so viele Facetten außerhalb und innerhalb unseres Wesens, dass sich manchmal vielleicht etwas schnell auflösen mag und verschwindet; manchmal ist es jedoch erforderlich, lange Zeit an etwas zu arbeiten.

Ich erinnere mich daran, dass ich früher einmal eine Freundin hatte, die ich regelmäßig traf und die mit Begeisterung meditierte. Es machte sie wirklich glücklich. Eines Tages kam sie jedoch zu mir und sagte: „Pah, Meditation! Ich mache es, aber was bringt das schon? Meine Freunde spielen Basketball, ich meditiere, und damit hat sich’s auch.“

Ich dachte: Was ist denn jetzt los? Warum hat sie ihre Meinung geändert? Also fragte ich sie nach einiger Zeit, was geschehen sei. Sie antwortete: „Pah! Mein Lehrer! Er hat überhaupt kein Mitgefühl. Er ist eigentlich überhaupt nicht erwacht. Also funktioniert Meditation nicht, oder?“ – „Moment mal“, erwiderte ich. „Was ist denn überhaupt passiert?“

Sie erzählte mir, wie sie jahrelang einen großen Lehrer aufgesucht und ihm tiefen Respekt entgegengebracht hatte. Sie blickte zu ihm auf und besuchte regelmäßig sein Zentrum. Nach einiger Zeit ergab sich jedoch ein Problem. Sie sah sich großen Schwierigkeiten gegenüber, es war eine sehr leidvolle Situation. Also wandte sie sich an ihren Lehrer und sagte: „Es geht mir sehr schlecht, ich habe diese große Schwierigkeit.“ Und der Lehrer antwortete: „Lass sie los.“ Das aber war überhaupt nicht möglich!

„Lass es los“ ist sicherlich eine buddhistische Art und Weise, etwas auszudrücken. Aber ganz offensichtlich war diese Antwort nicht adäquat und mitfühlend und meine Freundin spürte, dass sie sehr gefühllos war, denn der Lehrer hatte dem, was sie zu sagen hatte, überhaupt nicht richtig zugehört. Also versuchte ich das Ganze auf die Ebene zu brin­gen, dass der Lehrer vielleicht noch an sich arbeiten, noch praktizieren müsse, um das zu erlangen, was ich „Fähigkeiten im Umgang mit Menschen“ nenne. Er mag zwar große Meditationserfahrung gehabt haben, aber offensichtlich musste er noch an seinem praktischen Mitgefühl arbeiten, daran, den Leuten beizustehen; sie dort abzuholen, wo sie sind, und kreativ auf sie zu reagieren und einzugehen. Das ist gar nicht so leicht! Es gelingt nicht immer das Richtige sagen.

 

Meditation gipfelt nicht in einer einmaligen “Erleuchtung”

Gewissermaßen ist Meditation eine lebenslange Reise. Ich denke da an meinen inzwischen verstorbenen Lehrer, Meister Kusan, einen Zen-Meister in Korea. Er soll angeblich dreimal erwacht sein. Vielleicht sagt ihr jetzt: Aber ein Erwachen sollte doch wohl reichen.

Es ist eine interessante Vorstellung in dieser Tradition, dass man ein plötzliches Erwachen erlebt, eine plötzliche Erfahrung der Öffnung in der Praxis, an die sich dann die graduelle Praxis anschließt. Darauf folgt ein weiteres plötzliches Erwachen, und darauf wieder die graduelle Praxis. Eine plötzliche Erfahrung in der Meditation allein genügt also nicht. Man muss sie erst ganz natürlich in den Alltag einbringen, in die Art und Weise, wie man zueinander in Beziehung tritt, wie man zu sich selbst ist, wie man in seiner Arbeit ist usw.

Wenn ich mit Meister Kusan auf Reisen war, war es sehr schön zu sehen, dass er auf dem ganzen Weg praktizierte; nicht nur für kurze Zeit. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit ihm in Europa unterwegs war. Es war Mitternacht auf dem Hamburger Bahnhof. Eine lange Reise lag hinter uns und eine lange Reise vor uns, und da er sehr viel älter war als ich, war es nach koreanischer Auffassung meine Aufgabe, für sein persönliches Wohlergehen zu sorgen. Ich suchte also verzweifelt nach einem Platz für ihn, wo er sich hinsetzen konnte, denn am Bahnhof war es voll, und ich wollte, dass er sitzen konnte und es bequem hatte. Ich rannte herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und suchte. Plötzlich fragte er mich: „Was rennst du denn so herum?“ – Ich erklärte: „Sie müssen sich doch hinsetzen können! Ich muss einen Platz für Sie finden!“ Er erwiderte: „Aber ich kann doch stehen! Ich kann einfach stehen, meditieren und warten. Das ist in Ordnung.“ Also sagte ich: „Na gut.“ Und so blieben wir einfach dreißig Minuten stehen und übten sozusagen Stehmeditation um Mitternacht am Hamburger Bahnhof.

Für mich war es eine großartige Lehre, dass ich Erwartungen hatte, aber sie auch loslassen musste. Was zählte, war, gegenwärtig zu sein, die gegebene Situation zu akzeptieren und kreativ damit umzugehen. Und genau das tat Meister Kusan, indem er einfach dort stand, ohne Probleme mit der Erwartung, er müsse einen besonderen Sitzplatz haben, weil er ein Zen-Meister war.

 

Meditation bringt uns nicht an einen anderen Ort

Ein weiterer Aspekt der Meditation besteht darin, das Leben in diesem Augenblick zu erkennen und wertzuschätzen. Und gewissermaßen auch „mittendrin“ zu sein. Denn oft halten wir das Leben für selbstverständlich, und dadurch langweilt es uns ein bisschen – „ach, das spielt keine Rolle. Och, das ist langweilig“ –, und wir können keine Beziehung dazu herstellen. Wir lassen uns treiben, sitzen vor dem Fernseher, fühlen uns ein bisschen ziellos und fragen uns: Wozu ist das alles gut? Was soll das eigentlich?

Meditation trägt dazu bei, uns zu vergegenwärtigen, dass wir leben; dass jeder Moment des Lebens wirklich wertvoll ist und dass wir in jedem Moment praktizieren können. Wir können Stabilität und Offenheit entwickeln, wir können Weisheit und Mitgefühl kultivieren. Und wenn ein weiterer langweiliger Moment kommt, können wir ihn umkehren und sagen: ein weiterer Moment des Praktizierens; eine weitere Gelegenheit, bei der mein Potenzial sich entfalten kann.

Einmal war ich sehr berührt von meinem Lehrer. Als wir in Korea waren, bevor er starb, gingen wir spazieren. Er fühlte sich ein bisschen unwohl, aber trotzdem machten wir zusammen einen Spaziergang. Er blieb stehen, und wir setzten uns auf einen Baumstamm. Er wandte sich mir zu und sagte: „Man weiß nie, wie man im Moment des Todes sein wird. Deswegen muss man bis zu diesem Punkt sehr gewissenhaft praktizieren.“ Er fügte hinzu: „Auch ich selbst weiß nicht, wie ich sein werde. Also muss auch ich bis zu meinem letzten Atemzug praktizieren.“

Er war ein großer Zen-Meister, vollkommen gelassen, was auch immer geschah. Es war für mich sehr inspirierend zu sehen, dass auch er praktizieren musste. Und das tat er überall: im Zug, im Flugzeug, immer. Er schlug nur die Beine unter und meditierte. Denn in seinen Augen war er noch nicht am Ziel. Selbst wenn er drei Erfahrungen des Erwachens hatte, war die Praxis immer noch Teil seines Lebens.

 

Meditation ist nichts für die Selbstoptimierung

Wenn wir manchmal feststellen, dass wir frustriert sind, und uns wünschen, jemand anders zu sein, an einem anderen Ort zu sein, dann kann Meditation uns wirklich helfen, unsere Situation zu akzeptieren; zu akzeptieren, dass wir nirgendwo anders sein sollen als bei uns selbst. Meditieren bedeutet zu lernen, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu akzeptieren, mit sich selbst zu sein, sich mit sich selbst anzufreunden.

Vor einigen Jahren hatte ich eine solche Erfahrung. Als ich zu Hause war, noch zu Lebzeiten meiner Großmutter, spielte ich nachmittags gewöhnlich Domino mit ihr. Das war das Einzige, zu was sie noch Lust hatte. Wir spielten einfach Domino, so dass sie etwas Beschäftigung hatte. Es war Herbst, und Blätter fielen auf den Innenhof. Meine Großmutter hasste aber Blätter auf dem Hof, das war für sie etwas ganz Schlimmes. Wir spielten also, und plötzlich blickte sie auf und sah drei Blätter auf dem Hof. Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht, also stand ich selbst auf, fegte die Blätter weg, ging wieder zurück zur Tür. Dann wieder ein Blick: Vier Blätter! Aufstehen, Blätter einsammeln, Domino. Dann der Blick: drei Blätter. Ich stehe auf. Und als ich ging, um die Blätter aufzufegen, hatte ich einen kurzen Moment lang den Gedanken: „Ph! Also wirklich!“ – Es ist ja nicht besonders heldenhaft, endlos diese Blätter aufzusammeln.

Und plötzlich wurde mir klar, dass in diesem Moment nichts anderes zu tun war. Das war meine Aufgabe an diesem Nachmittag! Domino zu spielen und Blätter wegzufegen – nichts anderes wurde von mir verlangt. Das war die Meditation. Das war das Leben. Und es kam diese unglaubliche Leichtigkeit, wirklich ganz lebendig zu sein, in diesem Moment, ohne Vor und Zurück, ohne jegliches Drumherum.

 

Meditation ist  nichts, um etwas besonders zu werden

Ein Teil des Meditationsprozesses ist, dass wir gewissermaßen „gewöhnlicher“ werden, auf eine meditativ-ethische Art. Das spiegelt für mich auch ein wenig mein Leben wider. Denn als ich jung war, wollte ich immer etwas ganz Besonderes sein, bereits ganz früh: Zuerst wollte ich mit elf Jahren Präsidentin der Republik werden. Um die Welt zu retten natürlich. Dann wollte ich Parlamentsmitglied werden. Anschließend habe ich mich bemüht, Journalistin zu werden. Und dann wurde ich eine Nonne. Da war ich wirklich etwas Besonderes! Ich war zu jener Zeit die einzige französische Nonne in Korea, von 60 Millionen Franzosen, und ich war die einzige französische Nonne in Korea unter 60 Millionen Koreanern. Das war wirklich besonders! Das war sozusagen der Gipfel des Besonderen.

Als ich das Nonnenleben aufgegeben hatte, das erste Mal normale Kleidung trug und die Straße in einem französischen Dorf entlangging, war es für mich eine sehr interessante Erfahrung, dass niemand mich beachtete. Ich dachte: Was ist los? Und mir wurde klar, dass ich nichts Besonderes mehr war. Diese Erfahrung war so interessant! Inzwischen freue ich mich darüber, immer gewöhnlicher zu werden, in keinerlei Hinsicht mehr etwas Besonderes zu sein. Und ich glaube, auch das ist Teil des Meditationsprozesses, des Prozesses der Meditation fürs Leben.

 

Meditation heisst nicht, sich an anderen zu orientieren

 Außerdem schafft die Meditation Vertrauen in das eigene Potenzial. Dies ist meines Erachtens eine der wichtigsten Geschenke der Meditation. Wir beseitigen gewissermaßen die Hindernisse, damit unser kreatives Potenzial sich manifestieren kann. Genau das tun wir, wenn wir meditieren. Aber ich muss es fühlen. Wir müssen achtsam sein, dann werden wir es in unserem Leben spüren. Wenn wir in der Meditation sitzen, kultivieren wir Vertrauen und Kreativität. Das ist es, was geschieht. Unser kreatives Potenzial kann zutage treten, weil seine Begrenzung sich auflöst. Und wir können wirklich daran arbeiten und unser Potenzial für Positives und für Negatives erforschen. Meditation setzt die Kraft unseres Potenzials frei, das Positive zu entwickeln. Da­rum geht es meiner Meinung nach in der Meditation.

 

Meditation ist nicht Gelassenheit als Selbstzweck

Gelassenheit um ihrer selbst willen zu kultivieren, in dem Sinne: Egal, was geschieht, es berührt mich nicht, es ist mir egal – das ist für mich nicht Meditation. Das ist auch nicht Gelassenheit. Gelassenheit ist für mich im Grunde Offenheit und Weite, in der wir ruhiger und gesetzter sein können. Wir sind deswegen nicht gleichgültig. Aber wir sind offen. Und zwar so, dass wir, wenn wir auf bestimmte Umstände und Bedingungen treffen, kreativ antworten können und nicht einfach blind reagieren. Darum geht es für mich bei Gelassenheit: Weite zu kreieren. Dann Offenheit. Ich halte dies für einen wichtigen Aspekt der Meditation.

Von außen betrachtet scheint es zwar eine sehr selbstsüchtige Aktivität zu sein, einfach in Stille zu sitzen und sich mit sich selbst zu beschäftigen. Aber für mich geht es in der Meditation darum, unser Herz zu öffnen und das zu beseitigen, was verhindert, dass wir uns nicht nur uns selbst gegenüber, sondern gegenüber allen und jedem auf der ganzen Welt öffnen können, auf jede nur mögliche Weise. Und auch das nicht in einer selbstzentrierten Art und Weise, wie ich es damals tat, als ich elf Jahre alt war – „ich will die Welt retten.“ Sondern sich dem Nachbarn gegenüber öffnen, der Familie, den Freunden, vielen verschiedenen Menschen, Lebewesen, Tieren, der Natur … Es gibt so viel Lebendiges, für das wir uns öffnen können, auf das wir antworten können, so dass wir unser Leben als eine Gelegenheit sehen können, mit der Welt in Verbindung zu treten, statt sie für einen Ort des Getrenntseins zu halten.

Wir öffnen uns jedoch weise. Denn auch hier müssen wir natürlich achtgeben – manchmal gibt es Menschen, bei denen wir uns vorsehen müssen. Aber es gibt auch andere, mit denen wir wirklich in Verbindung treten können, die für uns ungefährlich sind. Und so hüten wir uns davor, Meditation als Mittel zu benutzen, uns von den Menschen abzusondern.

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Meditation heisst nicht, immer ruhig und gelassen zu bleiben

Bei einigen sollten wir natürlich vorsichtig sein. Ich hatte einmal einen Freund, einen deutschen Mönch, der zu dem Tempel kam, wo ich lebte. Er war aus einem besonderen Grund nach Korea gekommen, das ein sehr gruppenorientiertes Land ist. Zuvor war er in Thailand gewesen, wo er auf einer Insel praktizierte, ganz allein, nur sein Hund war noch dort. Er hatte tiefe meditative Zustände. Er sah die Insel, und es war wundervoll. Er atmete, und er war so weit und ruhig. Aber immer, wenn er zum Kloster zurückkam, geriet er augenblicklich in Streit. Sofort. Also kehrte er zur Insel zurück, und es war wieder phantastisch. Dann aufs Neue zurück zum Tempel, und wieder war es dasselbe. Also dachte er sich: Da ist ein Problem. Ich kann zwar meditieren, das funktioniert, aber im Alltag klappt es nicht. Also kam er nach Korea, um zu sehen, ob es in einer sehr gruppenorientierten Situation ein bisschen besser ginge.

Für mich als Übersetzerin war es etwas schwierig. Manchmal wurde ich gerufen und gebeten, für ihn zu übersetzen, er solle dieses oder jenes nicht tun und dass es ein Problem gebe. Eines Tages erkannte ich seine Schwierigkeit. Es war für mich eine große Lern­­erfahrung. In unserer freien Zeit besuchte er mich immer zum Tee. Und dann bestand seine Lieblingsbeschäftigung darin, mit mir ein Streitgespräch zu führen. Er suchte ein Thema, über das man streiten konnte, und ich ließ mich davon mitreißen. Nachdem er wieder gegangen war, fühlte ich mich jedes Mal richtig schlecht, sehr angespannt.

Also fragte ich mich: Was ist eigentlich passiert? Und beim dritten Mal sagte ich: „Moment mal! Was geschieht da eigentlich?“ Mir wurde klar, dass er Streit provozierte. Ich dachte: Aber ich muss das nicht mitmachen. Meinetwegen soll er es tun, wenn er nicht anders kann, aber ich nicht mit mir.

Also wurde dies von da an zu meiner Praxis. Wann immer er kam, erhielt er seinen Tee und begann: „Wie steht es damit?“ – „Oh ja. Sehr interessant“, antwortete ich. – „Und damit?“ – „Hm, interessanter Gedanke.“ Und er ging, ohne dass ich ihm Nahrung für ein Streitgespräch gegeben hätte. Es war kein Feuer mehr dahinter, weil ich mich nicht in das Spiel hineinziehen ließ. Und es war sehr lehrreich für mich zu sehen, wie es funktionierte.

Bei der Meditation geht es also nicht nur darum, ruhig und gelassen zu bleiben, sondern im Grunde auch darum nachzufragen, was geschieht, wo verstricke ich mich durch automatische Reaktionen. Wie kann ich mich kreativ ändern, wie kann ich mit den Dingen auf andere Art und Weise umgehen? So etwas ist auch auf Klarheit zurückzuführen. In der Meditation geht es für mich auch um Klarheit, um Kreativität, um die Fähigkeit, angemessen zu reagieren bzw. zu antworten. Und darum meine ich, wenn wir meditieren, dann kultivieren, entwickeln, entfalten wir im Grunde kreative Bewusstheit.

 

Meditation heißt nicht, möglichst lange beim Atem zu bleiben

Ihr könnt die Wirkung der kreativen Bewusstheit bzw. des kreativen Gewahrseins nicht wirklich sehen. Ihr entwickelt es jedoch, wenn ihr euch konzentriert, wenn ihr nachforscht, wenn ihr den Dingen auf den Grund geht und Einsicht durch die Meditation entwickelt. Dann kultiviert ihrer kreative Bewusstheit, sodass ihr in euren Beziehungen, bei eurer Arbeit und euch selbst gegenüber in der Lage seid, adäquat auf den Alltag zu reagieren, wenn er ins Alltagsleben wieder zurückkehrt.

Ich kenne Leute, die tatsächlich meinen, es ginge bei der Konzentration in der Meditation darum, die ganze Zeit beim Atem zu bleiben. Man kann das natürlich tun, aber das prägnanteste Gefühl bei der Konzentration ist für mich die Tatsache, dass sie uns in die Lage versetzt, unsere Gewohnheiten zu sehen. Das ist das Interessante daran: Meditation ermöglicht uns, ruhiger zu werden, wir werden bewusster, und wir erkennen klarer und unvoreingenommener, was wir denken, was wir empfinden; was wir oft, wiederholt, in unserem physischen Körper fühlen – und das sehen wir dann ganz anders. Gleichzeitig, noch während wir es sehen, lösen wir es in seine Bestandteile auf. Denn in der Meditation versuchen wir nicht, uns des Körpers, des Geistes oder des Herzens zu entledigen – im Gegenteil. Wir versuchen, das wiederzuerlangen, was ich als das „optimale Funktionieren“ bezeichne: dass der Geist mit Freiheit, Wachheit und Kreativität funktioniert. Dasselbe gilt für unsere Gefühle und unseren Körper. Das versuchen wir. Und genau das ist meiner Ansicht nach wichtig: zu sehen, wie wir uns auf bestimmte Gewohnheiten bzw. Verhaltensmuster fixiert sind.

 

Meditation ändert nichts, wenn ich nicht an den eigenen Gewohnheiten arbeite

Um wieder auf die Gewohnheiten zurückzukommen, möchte ich ein paar kurze Beispiele geben. Eine geistige Gewohnheit zu Beginn meiner Meditationspraxis als Nonne in Korea war das Tagträumen. Ich liebte Tagträumen! Es war meine Lieblingsbeschäftigung. Ich saß in der Meditation und stellte mir vor, ich sei in einer Einsiedelei, würde die Erleuchtung erlangen und alle Menschen retten. Das war mein Lieblingstagtraum. Bis mir klar wurde, dass ich überhaupt nicht meditierte – ich träumte nur davon. Und das bewirkte überhaupt nichts Nützliches. Diese Erkenntnis führte zu einer gewissen Frustration mit meiner Meditation. Doch dann, nach einer Weile, hörte ich mit dem Tagträumen auf. Ich durchschaute es gewissermaßen.

Interessant ist aber die Frage: Woher kam das Tagträumen überhaupt? – Aus der Vorstellung! Und die Vorstellungskraft ist eine sehr wichtige Funktion unseres Geistes. Also ist es sehr wichtig, sie kreativ nutzen zu können. Daher sollten wir erkennen, wann es sich um kreative Vorstellungskraft handelt und wann um Tagträumen. Letzteres ist sehr abstrakt, hat sehr wenig Bezug zur Realität und führt oft zu Frustration. Wir müssen den Unterschied erkennen zwischen dem, was ich als „gewöhnliches Funktionieren“ bezeichnen würde, und Gewohnheiten, die uns wirklich festlegen und einschränken.

Um ein emotionales Muster zu beschreiben: Sei es, weil ich aus Südfrankreich komme, sei es, weil es zu meinen biologischen Gegebenheiten gehört, warum auch immer – ich werde leicht wütend. Ich bin lebhaft und rege mich leicht auf. Das war früher noch viel stärker. Inzwischen ist es durch meine Meditation sehr viel besser geworden. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich diese Neigung nicht mehr hätte. Aber inzwischen rege ich mich zwei Minuten lang auf, dann sehe ich, dass die Wut wieder verfliegt. Früher war ich tagelang wütend, und das war für mich und für andere ziemlich quälend. Wenn wir den Zorn jedoch näher betrachten, ist er letztendlich nur Energie. Zorn als Gefühl an sich ist Energie. Einfach eine Energie, aus vielen verschiedenen Gründen. Wir sind wütend, wir haben dieses Gefühl. Es brodelt, es lodert. Es ist schmerzlich zu sehen, wie wir es im Geist herumwälzen und aufbauschen.

 

Meditation heisst nicht, dass wir nie wieder wütend sind

Kann Zorn als Gefühl nützlich sein? Im Januar 2007 ist in Frankreich einer der großen französischen Helden gestorben. Vielleicht habt ihr davon gehört. Er wird Abbé Pierre genannt und war einer meiner Helden. Er war in Frankreich berühmte Persönlichkeit, die alle kannten. Alle schwelgten sozusagen in seiner Heiligkeit.

Ich bin ihm einmal vor vielen Jahren anlässlich einer Friedenskonferenz begegnet. Alle sprachen über Frieden, und es war „multireligiös“, und man erging sich in Wendungen wie „ja, wir sind für den Frieden“ usw. Und plötzlich kam dieser kleine Mann – er war ziemlich klein und hager – und sagte: „Ich bin zornig!“ – Ich dachte, Moment mal! Alle sprachen über Frieden, und er sprach über Zorn! Armut machte ihn zornig. Obdachlosigkeit machte ihn zornig. Und das bewirkte, dass er damit sehr kreativ umging. Denn der Zorn ging nicht verloren, wurde nicht zu einer störenden Emotion. Stattdessen war er eine Energie, die den Pater in die Lage versetzte, eine riesige Bewegung zu erschaffen, die sich für viele Belange einsetzte.

Wir sehen also erneut: Das Problem liegt nicht bei der Emotion selbst, sondern bei der Gewohnheit, und der Art, damit umzugehen.

 

Meditation leugnet keine Schmerzen

Im Körper wiederum ist das, was sich wiederholt, bei jedem von uns aufgrund der verschiedenen körperlichen Voraussetzungen unterschiedlich. Ich zum Beispiel habe regelmäßig Ischiasschmerzen, wenn ich auf einem Stuhl sitze. Anfangs, als ich diese Schmerzen hatte, fragte ich: Warum ausgerechnet ich?! Man denkt: Warum ich? Was letztendlich heißt: Warum nicht jemand anders? – Sehr mitfühlend!

Doch dann dachte ich: Was geschieht eigentlich? Statt zu denken: „Ach, es ist schrecklich, ich sollte das nicht haben“, begann ich zu denken: „Aber warum habe ich es? Es ist nicht die ganze Zeit da, ich habe aber diese Neigung, was kann ich dagegen tun?“ So lernte ich. Das Ischiasproblem war ein Zeichen, das mir half, zu einem viel besseren Umgang mit meinem Körper zu finden. So kann ich mich beim Laufen, wenn ich etwas hebe oder beim Gärtnern entsprechend verhalten und gehe rücksichtsvoller mit meinem Körper um, statt die Dinge achtlos zu verrichten.

Meditation hilft uns also, den Schmerz nicht zu leugnen – „ach, das tut gar nicht weh“ –, sondern ihn zu sehen; zu sehen, wo der Schmerz seinen Sitz hat, und auch zu erkennen, wie ich mir Erleichterung verschaffen kann, soweit es mir unter den gegebenen Voraussetzungen möglich ist.

Der andere Aspekt ist auf Erfahrung beruhendes Untersuchen und intuitives Erkennen. Das ist die Fähigkeit, die wir haben, klar und ungetrübt zu sein. Darum ist es, wie ich glaube, wichtig, dass es bei der Meditation nicht darum geht, “leer” zu werden oder zu sein. Bei der Meditation kommt es sehr stark darauf an, Lebendigkeit, Klarheit, Offenheit, Kreativität zu kultivieren, indem wir tief in die Erfahrung hi­neinschauen und sehen, was geschieht. Das Gewahrsein ist also kein bloßes gleichgültiges Gewahrsein. Ich würde es kreative oder engagierte Bewusstheit nennen.

 

Meditation ist nicht passives Ertragen

Bei der Meditation sehen wir die Art und Weise, wie wir uns und unsere Umwelt erfahren und wir sehen die veränderliche Natur unserer Erfahrung. Beides ist sehr wichtig: die veränderliche Natur zu erkennen, aber auch zu sehen, dass die Dinge relativ konstant bleiben können. Morgen früh werde ich hier sitzen – hoffentlich, wenn ich nicht in der Nacht eine Herzattacke erleide. Ich glaube nicht, dass es in der Nacht zu einer wesentlichen Wandlung meines Wesens kommen wird. Also nehme ich an, dass ich in diesen vier Tagen hier relativ gleich aussehen werde.

Doch wer weiß? Es könnte etwas passieren. Kürzlich habe ich in Südafrika gelehrt, und ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber in einer Nacht hat mich ein Insekt gestochen, und am folgenden Tag – wow! Mein Gesicht! Ich sah nicht so aus wie sonst. Ich hatte eine schlimme Allergie, war aufgequollen und rötlich-gelb gefleckt. Die Leute nahmen es sehr gelassen, sie sagten nichts zu meiner veränderten Erscheinung. Ich sah also von einem Tag auf den anderen völlig anders aus. Und mein Gesicht fühlte sich ganz anders an. Aber ich dachte: Na gut, so ist es eben. Ich versuchte, etwas dagegen zu tun, und dann änderte es sich wieder. Es brauchte zwar eine gewisse Zeit, aber es hat sich geändert.

Es ist wichtig, die veränderliche Natur zu sehen, aber auch zu erkennen, dass eine gewisse Konstanz besteht. Wir werden uns nicht andauernd schnell ändern. Aber es kann zu Veränderungen kommen, so dass wir uns nicht so starr und unveränderlich fühlen. Das Gefühl, „ich bin so, und ich verändere mich nicht“, gehört zu den Schmerzen, die wir selbst erschaffen. Wir mögen vielleicht dazu neigen, auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Aber diese Art und Weise ist nicht immer gleich. Wodurch wird sie hervorgerufen? Was geschieht?

 

Meditation ändert nicht die Bedingungen, unter den wir leben

Die Natur aller Dinge und Phänomene ist bedingt, d.h. alle entstehen aus Bedingungen bzw. Voraussetzungen heraus, sowohl äußeren als auch inneren. Nichts existiert aus sich heraus. Im Alltag besteht der Meditationsprozess im Grunde darin, zu lernen, zunehmend jene Bedingungen zu entdecken, denen wir unterliegen, und auch die Art und Weise, wie unsere inneren Voraussetzungen mit den äußeren Bedingungen in Beziehung treten. (Ich werde morgen Abend mehr dazu sagen.) Das ist für mich der Grund, weshalb die Meditation eine Entdeckungsreise ist, in deren Verlauf wir die Bedingungen unserer Existenz erkennen.

Oft sehen Praktizierende Meditation als etwas, das sie ihre Bedingungen überwinden lässt, und deswegen halten sie sie für eine gute Idee – „eines Tages werden wir irgendwo oben he­rumschweben, und nichts kann uns mehr etwas anhaben“. Ich glaube es nicht, dass das passiert. Wer weiß? Aber ich glaube nicht. Ich meine im Gegenteil, dass wir die Bedingungen verstehen werden: Welche Bedingungen helfen mir, ruhiger zu werden? Welche Bedingungen helfen mir nicht, ruhiger zu werden?

Ich halte es für sehr wichtig, die Bedingungen bzw. Voraussetzungen zu kennen, zu sehen, wie sehr wir von ihnen beeinflusst werden. Wie können wir kreativ mit ihnen umgehen? Auf dieser Ebene eröffnet Meditation uns allmählich Wahlmöglichkeiten, tief in die Bedingungen hineinzuschauen; und die Konzentration, die das fragende Untersuchen erzeugt, aktiviert die kreative Bewusstheit.

 

Meditation ist nichts für Eilige

Es ist wichtig zu erkennen, dass wir kreative Bewusstheit oder kreatives Gewahrsein nicht an einem Tag entwickeln – ich meditiere, und plötzlich bin ich 100 Prozent der Zeit kreativ bewusst. Es entsteht ganz natürlich. Ich würde es daher als einen Prozess bezeichnen, einen Vier-Stufen-Prozess. Wir durchlaufen den Zyklus der negativen Gewohnheiten, wir verstricken uns darin, wir gehen hindurch, und am Ende des Ganzen sehen wir: Oh – ich habe es schon wieder getan! Das ist passiert, ich habe so reagiert, ich war wütend, eifersüchtig, traurig, ärgerlich usw. Und doch ist es ein zweites Mal geschehen. Am Ende erkennen wir: „Ach so!“ Wir beginnen zu sehen.

Der erste Schritt

Das ist der erste wichtige Schritt: zu sehen, dass etwas geschehen ist, das sich wiederholt. Es ist wichtig, zu erkennen: „Oh ja, das ist passiert. So habe ich mich gefühlt, ich habe das gesagt; es ist passiert, und es war schmerzlich für mich.“ – Das ist der erste Schritt.

Der zweite Schritt

Dann gibt es einen zweiten Schritt – meinem Gefühl nach der schwierigste –, wenn wir uns selbst mitten in diesem Muster erwischen. Ich erinnere mich da­ran, dass ich zu jener Zeit, als ich gerade mit meinem Mann aus Korea gekommen war, manchmal nachts aufwachte und voller Wut war. Dann sagte ich zu ihm: „Ich bin wütend!“ – „Worüber?“, wollte er wissen. Und ich antwortete: „Keine Ahnung„.Es gab nichts, worüber ich wütend hätte sein müssen. Es war ein Gefühl. Dieses Gefühl zu erkennen hat es zwar nicht beendet, aber es machte mir bewusst, dass es da war. Ich ließ mich weniger davon mitreißen.

 

Meditation kann unsere Emotionen nicht auslöschen

Der dritte Schritt

Dann gibt es das, was ich den Beginn des dritten Schrittes nenne. Wir nehmen das Gefühl wahr, aber wir können nichts dagegen tun. Doch durch dieses Sehen wird es immerhin ein bisschen schwächer. Schließlich gelangen wir zu einem bestimmten Punkt, wenn wir das Gefühl an seinem Beginn sehen. Allmählich erkennen wir, wovon es ausgelöst wird. Das habe ich in Bezug auf mich und meinen Ärger gelernt. Ich stellte fest, dass ich ärgerlich war: „Hm, ich ärgere mich, ich bin wütend.“ Und dann hielt ich Ausschau nach jemandem, auf den ich wütend sein konnte, fand allerdings nur Personen, die nichts getan hatten. Statt also weiter nach jemandem zu suchen, über den ich mich ärgern konnte, begann ich nachzuforschen: Warum bin ich wütend? Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass der Auslöser Müdigkeit war. Wenn ich müde war, konnte ich leicht reizbar werden. Daran, dass ich Wut verspürte, konnte ich also erkennen, dass ich müde war. Also ruhte ich mich aus, und nach einer Stunde war es vorüber. So war das Verhältnis zu den Menschen in meiner Umgebung sehr viel friedlicher. Es ist meines Erachtens ein wichtiger Prozess zu erkennen, dass die Wut oder Eifersucht oder was auch immer es ist bestimmten Voraussetzungen entspringt. Was ist der Auslöser? Wir erkennen das Gefühl schon zu seinem Beginn und kehren es dann mit kreativer Energie um und geraten auf diese Weise nicht in das bis dahin unvermeidliche Muster.

Der vierte Schritt

Und dann tun wir den vierten Schritt, in gewissem Sinne den schönsten: Wir sehen das Gefühl, bevor wir von ihm erfasst werden. Sogar noch bevor es aufsteigt. Wir stehen kurz davor, in unser negatives Muster zu geraten und zum hundertsten Mal das zu tun, was wir seit unserer Geburt (oder kurz danach) bereits getan haben, doch die kreative Bewusstheit sagt: „Warte mal! Könntest du nicht etwas anderes tun?“ Und dann kann es doch immer wieder passieren, dass wir in diesem Moment ein starkes Gefühl haben, das sich Stimme verschafft: „Wie kann ich denn etwas anderes tun? Ich habe doch noch nie etwas anderes getan!“ Deswegen ändern wir leidvolle Gewohnheiten oftmals nicht. Wir ziehen das Leidvolle, das wir kennen, dem unbekannten Nicht-Leidvollen vor.

Und eben deshalb meditieren wir: um die Macht der kreativen Bewusstheit zu entwickeln, so dass wir diesen Moment rechtzeitig erkennen und wagen, etwas anderes zu tun. Und dann ist es eine solche Erleichterung – „ah, warum habe ich das denn nicht schon früher getan?“ – Wir haben es früher nicht getan, weil wir nicht über die Macht de kreativen Bewusstheit verfügten. In gewisser Weise geht es darum, zu erkennen, dass es keine Rolle spielt, in welchem Stadium wir uns befinden. Etwas wird intensiver sein. Und so werden wir uns alle schließlich im letzten oder im mittleren Stadium wiederfinden, und etwas wird ein bisschen leichter sein, oder wir sind endlich in der Lage, etwas rechtzeitig zu erkennen, und dann können wir frei entscheiden, was wir tun.

Wenn wir das Gefühl durchbrechen und etwas anderes tun, dann verschwindet das Verhaltensmuster wirklich. Denn in diesem Moment erkennen wir, wie schmerzlich es für uns und für andere war. Und aus Mitgefühl uns selbst und anderen gegenüber sind wir nicht mehr fähig, es zu wiederholen.

An dieser Stelle möchte ich enden. Gibt es Fragen oder Anmerkungen?

 

Frage zum Begriff kreatives Gewahrsein bzw. kreative Bewusstheit

 Frage: Sie verwenden das Wort „kreativ“ recht oft. (…) Kreative Bewusstheit oder kreatives Gewahrsein – könnten Sie das ein bisschen erläutern?

MB: Das ist etwas, was mir mit zunehmender Praxis auffiel. Ich erkannte allmählich, dass Gewahrsein nicht nur darin besteht, gewahr zu sein, bewusst zu werden. Bewusstheit oder Gewahrsein ist kreativ. Ich fühlte, dass es eine Bewegung gab, dass die Meditation mit der Zeit die Hindernisse, die sich meinem kreativen Potenzial entgegenstellten, beseitigte. Dass ich, statt zu denken, „so ist es nun einmal, und damit hat sich’s“, zu denken begann: „Ich könnte in dieser Angelegenheit anders handeln. Ich könnte anders reagieren bzw. antworten. Ich könnte anders reden“. Das meine ich mit kreativ…

Ich versuche auf viele verschiedene Arten zu lernen und auch ein bisschen mehr nachzudenken, bevor ich etwas sage – was nicht heißen soll, dass ich es immer tue. Aber das habe ich nun gelernt. Ich versuche, bevor ich reagiere erst einmal zu sehen, wie ich es formulieren kann. Das ist für mich ein kreativer Akt: etwas auszuprobieren, das man vielleicht noch nie zuvor gesagt hat. Wie kann man jemand etwas unter Berücksichtigung aller Bedingungen mitteilen? Das meine ich. Was ist in diesem Moment das Kreativste, das ihr denken oder sagen könnten?

Ich würde kreatives Gewahrsein oder kreative Bewusstheit also so sehen, dass sie uns Wahlmöglichkeiten eröffnet. Sie ermöglicht, dass unser Potenzial zutage tritt und dass wir die Möglichkeit haben etwas sagen, was uns vorher nie in den Sinn gekommen wäre. Und dass wir uns oft selbst überraschen mit dem, was wir tun, was wir sagen und wie wir handeln.

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